
Das deutsche Gesundheitssystem muss aus Sicht des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege deutlich besser auf Krisen wie Pandemien oder Folgen des Klimawandels vorbereitet werden. Dabei sei eine Strategie gefragt, welche die Verantwortung auf viele Schultern verteilt.

Die Lagezentren in den Landkreisen müssten für den Krisenfall besser vernetzt werden. Foto: picture alliance/dpa/Jens Kalaene
Die Selbstwahrnehmung eines gut organisierten Versorgungssystems sei „trügerisch“, warnte der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, anlässlich der Übergabe des Gutachtens „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“ an die Bundesregierung.
Das deutsche Gesundheitswesen sei ein „behäbiges Schönwettersystem“, welches unter anderem an unzureichender Koordination zwischen Bund, Ländern und Kommunen, einer noch immer unzulänglichen Digitalisierung sowie einem „formaljuristisch leerlaufenden Datenschutzverständnis“ leide, sagte Gerlach. Aus den aktuellen krisenhaften Erscheinungen seien keine ausreichenden Schlüsse gezogen worden – dabei gebe es weniger ein Erkenntnisproblem als Daten- und Umsetzungsdefizite. Der Ratsvorsitzende, selbst Allgemeinmediziner und Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, betonte aber ausdrücklich, dass dies nicht als Kritik an den nicht zuletzt im Zuge der Pandemiebewältigung hoch engagierten Akteuren in den Praxen, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder auch Apotheken verstanden werden sollte.
Weitreichende Ansätze nötig
Klar sei aber, dass für eine ausreichende systemische Widerstandsfähigkeit unter anderem die überfälligen Strukturänderungen in der Krankenhausversorgung angegangen sowie die Bund-Länder-Zusammenarbeit „deutlich“ verbessert werden müssten. Auch müsse der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) umfangreicher ausgestattet werden. Das geplante ÖGD-Bundesinstitut könne als „Plattform“ für Datenerfassung und -auswertung sowie Koordination und Kommunikation wertvolle Beiträge liefern.
Bezüglich der Datenfrage kritisierte Gerlach, Deutschland sei in der Coronapandemie im „Datenblindflug“ unterwegs gewesen. Ohne aussagekräftige Daten sei aber keine Krisenresilienz möglich: Hier gebe es erheblichen Nachholbedarf. Für viele Bereiche gebe es zudem bereits gute Analysen und Konzepte – etwa Pandemie- oder Hitzepläne. Sie verstaubten aber oft in Schubladen anstatt konsequent umgesetzt und eingeübt zu werden. Vorhandene Institutionen, wie das Robert Koch-Institut (RKI) oder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), hingen organisatorisch „in der Luft“ und hätten wenig bis keine Durchgriffsmöglichkeiten, kritisierte Gerlach.
Da krisenhafte Herausforderungen in Art und Auswirkung eben nicht sicher vorhersagbar seien, gleichzeitig oder gehäuft auftreten könnten sowie viele Lebensbereiche betreffen, müsse laut den Sachverständigen zum einen ein All-Gefahren-Ansatz („all hazards approach“) verfolgt werden. Zum anderen solle im Hinblick darauf, dass Gesundheit von vielen anderen Lebens- und damit Politikbereichen – etwa Umwelt, Arbeit, Wohnungs- und Städtebau, Verkehr, Wirtschaft und Bildung – beeinflusst wird, das ressortübergreifende Prinzip „Health in All Policies“ gestärkt werden.
Dies gelte insbesondere für den Umgang mit den zu erwartenden Folgen des Klimawandels, betonte Ratsmitglied Prof. Dr. med. Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke. Unter anderem müssten Gesundheitseinrichtungen Klimaanpassungsmaßnahmen umsetzen – der Aspekt spiele aber auch bei der Stadtentwicklung eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel, Gerlach bezeichnete in als absehbar „größte Gefahr für die Gesundheit“, verweist der Sachverständigenrat zudem auf die Notwendigkeit verbesserter Monitoringsysteme bezüglich der Auswirkungen von Hitzewellen, eine Optimierung der entsprechenden Kommunikation sowie die Einbindung der Thematik in die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Heilberufen.
Versorgungssicherheit erhöhen
Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld, ebenfalls Mitglied des Sachverständigenrates, äußerte sich zu einem weiteren im Gutachten analysierten Aspekt: der materiellen Versorgungssicherheit mit beispielsweise Arzneimitteln. Wichtige Punkte seien die Stärkung der Lieferketten, die Sicherung von Produktionskapazitäten oder auch eine ausreichende Bevorratung. Was aktuell politisch diskutiert werde, gehe „in die richtige Richtung“ – man dürfe sich allerdings nicht auf einzelne Medikamente beschränken, sondern müsse sich mit der Gesamtproblematik verstärkter Engpässe auseinandersetzen. Grundsätzlich gebe es für umfassende Anpassungen im Gesundheitssystem derzeit ein „window of opportunity“. Dieses müsse genutzt werden, betonte Greiner.
Dazu erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), die Coronapandemie habe gezeigt, dass das Gesundheitswesen widerstandsfähiger werden muss. Das Gutachten gebe „Rückenwind für die geplanten schwierigen, aber dringend notwendigen Reformen“. „Wir ordnen die Krankenhausstruktur neu, machen Arzneimittelversorgung sicherer, sorgen mit niederschwelligen Angeboten für gute Medizin für alle. Und wir ziehen Lehren aus der Pandemie“, so Lauterbach. Zu diesen Themen bleibe er mit dem Sachverständigenrat im Austausch.
Dieser wird demnächst personell neu besetzt werden müssen: Ende Januar 2023 endet die Amtszeit der derzeitigen sieben Mitglieder des Sachverständigenrates. Mehrere aktuelle Mitglieder – unter anderem Gerlach – kündigten bereits an, nicht für eine nochmalige Berufung zur Verfügung zu stehen.
Rebecca Beerheide, André Haserück
Das SVR-Gutachten: http://daebl.de/MR13

Foto: Stiftung Gesundheitswissen
3 Fragen an . . .
Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege
Wer soll der zentrale Akteur für mehr Resilienz im Gesundheitswesen sein?
Es kann nicht den einen geben, da sind alle im Gesundheitssystem gefragt: Arztpraxen, Apotheken, Kliniken, der Öffentliche Gesundheitsdienst, die Akteure in der Arzneimittelversorgung. Dafür müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen und Anreize gesetzt werden, es braucht eine Strategie. Das bedeutet konkret, dass alle Bereiche gefragt sind und Verantwortung übernehmen müssen. Dazu gehören etwa Kassenärztliche Vereinigungen, die gesamte Selbstverwaltung oder alle Krankenhäuser.
Was kann man aus der Pandemie lernen?
Man kann sehr viel daraus lernen. Ein Beispiel: Praxen sind insgesamt vergessen worden, sie kommen in Pandemieplänen bisher in der Regel gar nicht vor. Dies obwohl die Praxen ganz wesentlich bei der Bewältigung der Krise geholfen haben, denn die meisten Patienten wurden dort versorgt. Die Praxen haben den wesentlichen Teil der Impfkampagne geschultert, sie haben die konkrete Aufklärung gemacht, sie haben die Heime versorgt. Ohne die Praxen geht es gar nicht. Die ambulante Versorgung muss also zukünftig in Pandemieplänen berücksichtigt und auch in Übungen einbezogen werden.
Ein Baustein des Gutachtens ist Vertrauen in die Kommunikation des Staates sowie digitale Frühwarnsysteme. Sind sie zuversichtlich, dass künftig bestimmte Zielgruppen besser erreicht werden?
Viele Maßnahmen, die ergriffen wurden, haben nicht oder unzureichend funktioniert. Wenn wir nach Israel schauen, dann gibt es dort für alle Bürgerinnen und Bürger eine elektronische Patientenakte (ePA). Über diese hat man in der Krise die Möglichkeit gehabt, und auch genutzt, Hochrisikopatienten über Schutzmaßnahmen aktiv zu informieren. Auf dieser Basis erfolgte später schnell, unaufgeregt und nach Risiko gestaffelt die Einladung zur Impfung. Die Basis für die notwendige Transparenz über das Krisengeschehen und entsprechend gezielte Maßnahmen ist eine funktionierende ePA, die in ihrer Funktionalität deutlich über das hinausgeht, was wir in Deutschland bisher haben. Die jetzige ePA ist viel zu kompliziert und steckt in einer Sackgasse. Wir benötigen einen Neustart nach internationalen Vorbildern.
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