Medizinischer Dienst: Steigern der Patientensicherheit spart Kosten

Berlin – In der Debatte über Einsparmöglichkeiten im Gesundheitssystem sollte das Thema Patientensicherheit aus Sicht des Medizinischen Dienstes (MD) stärker im Fokus stehen. „Zusätzlich zum Leid der Betroffenen kostet unsichere Versorgung sehr viel Geld“, sagte der Vorstandsvorsitzende des MD Bund, Stefan Gronemeyer, heute in Berlin bei der Vorstellung der Behandlungsfehlerstatistik für das Jahr 2024.
Er bezog sich auf Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der OECD, die darauf hinwiesen, dass ein beträchtlicher Teil der Krankenhausausgaben in Industrieländern auf die Behandlung von Komplikationen infolge vermeidbarer Fehler entfalle. Bezogen auf Deutschland sei von Milliardenbeträgen auszugehen, sagte Gronemeyer.
Im vergangenen Jahr erstellte der MD nach eigenen Angaben rund 12.300 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern. Der Verdacht konnte mehrheitlich nicht bestätigt werden: „Kein Behandlungsfehler“, urteilten die Fachleute des MD in knapp 70 Prozent der Fälle. „Fehler ohne Schaden“ hieß es in 3,5 Prozent der Begutachtungen.
Einen Behandlungsfehler mit Schaden stellten die Gutachterinnen und Gutachter bei etwas mehr als einem Viertel der Vorwürfe fest (rund 27 Prozent), wobei meistens auch eine Kausalität festgestellt wurde. Besonders häufig ging es um Maßnahmen, die nicht oder fehlerhaft durchgeführt wurden.
Die Zahlen beziehen sich auf den ambulanten und den stationären Sektor, darunter auch Pflegeeinrichtungen und Rehakliniken. Zahnmedizinische Behandlungsanlässe sind ebenso in den Zahlen enthalten.
Die Zahl der Gutachten und die Fehlerquote bewegen sich nach MD-Angaben auf nahezu gleichem Niveau wie in den Vorjahren, auch die festgestellten Fehlermuster seien gleich geblieben. Dennoch: Es handle sich keineswegs um ein Randproblem, sagte Gronemeyer. Eine hohe Dunkelziffer sei anzunehmen.
Die Zahlen sind nicht repräsentativ und erlauben auch keine Rückschlüsse auf die Sicherheit bestimmter Fachgebiete. Ein statistisch vollständiges Bild für Deutschland existiert auch deshalb nicht, weil Behandlungsfehlervorwürfe zum Beispiel auch von Gerichten sowie von Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Landesärztekammern behandelt werden.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) setzte die Zahl der bestätigten Behandlungsfehler im Krankenhaus von rund 2.000 in Relation zur Zahl der Behandlungsfälle (17 Millionen) und sprach von einer Fehlerquote von 0,0001 Prozent. Das Qualitätsniveau sei hoch und man arbeite konsequent an Fehlervermeidung.
„Trotz aller Anstrengungen müssen wir uns bewusst sein: Eine Null-Fehler-Quote ist in der Medizin unmöglich“, teilte der DKG-Vorstandsvorsitzende Gerald Gaß mit.
Forderung nach Systemansatz und strengeren Vorgaben
Der MD-Vorstandschef forderte hingegen eine übergreifende Strategie, um Fehler systematisch zu vermeiden und die Patientensicherheit hierzulande zu steigern. Für besonders schwere, vermeidbare Schadensereignisse, sogenannte Never Events, brauche es ein verpflichtendes System für pseudonymisierte und sanktionsfreie Meldungen. Würden die Fälle dann genau analysiert, ließen sie sich künftig besser vermeiden. Haftungsrechtliche Fragen sollen hier außen vor bleiben.
Der MD stellte vergangenes Jahr laut seiner Statistik 134 Never Events fest. Diese Fehler seien zwar selten, deuteten aber auf unzureichende Sicherheitsmaßnahmen vor Ort hin und seien deshalb so bedeutsam, sagte Gronemeyer. Es handle sich nicht um Hinweise auf individuelles Versagen.
Weiter fordert der MD, dass eine „Pflicht zur Offenheit“ gesetzlich verankert wird. „Patientinnen und Patienten sollten ein Recht darauf haben, unaufgefordert und vollständig informiert zu werden, wenn bei ihrer Behandlung möglicherweise ein Fehler passiert ist“, sagte Gronemeyer. Für viele seien ehrliche Aufklärung und gegebenenfalls eine Entschuldigung wichtiger als Schadenersatz.
Wirtschaftliche Bedeutung vermeidbarer Fehler
Der Professor für Management im Gesundheitswesen Reinhard Busse von der TU Berlin führte bei der Vorstellung der MD-Statistik aus, dass vermeidbare Fehler das System teuer zu stehen kämen und dass diese Mittel an anderer Stelle fehlten, zum Beispiel bei der Prävention. Diese Fehler entstünden dort, wo systematische Sicherheitsmechanismen fehlten, wo Kommunikation und Koordination nicht griffen oder wo ökonomischer Druck Prozesse überlagere.
Busse zog internationale Studien heran und leitete aus den darin genannten Größenordnungen Zahlen für Deutschland ab. Demnach sei von mehr als 800.000 Krankenhauspatientinnen und -patienten auszugehen, die hierzulande jährlich durch vermeidbare Behandlungsfehler geschädigt würden. Für die Folgen vermeidbarer Schadensereignisse würden nach den Berechnungen 15 Milliarden Euro aufgewendet.
Es sei davon auszugehen, dass die ökonomische Bedeutung vermeidbarer Schäden und von Behandlungsfehlern größer sei als die vieler anderer Gesundheitsrisiken, sagte Busse. Selbst wenn man von deutlich geringeren Zahlen ausgehe, etwa nur den dokumentierten Schäden, seien die ökonomischen Konsequenzen „beträchtlich“. Neben direkten Kosten fielen weitere Kosten für die Allgemeinheit an, wie etwa durch verlängerte Arbeitsunfähigkeit.
Zu Deutschlands Position im Vergleich mit anderen Ländern verwies Busse auf Daten zu codierten „Adverse Events“ (Nebenwirkungen medizinischer Behandlungen): Dabei falle auf, dass die Zahl der weltweiten Todesfälle dadurch seit 1990 um rund ein Drittel auf 1,3 pro 100.000 Einwohner gesunken sei, während sie in Deutschland deutlich zugenommen habe, auf 1,9 pro 100.000 Einwohner. Als Vergleichswert, der Sorgen mache müsse, zog Busse die Schweiz heran: mit 0,6 solchen Todesfällen pro 100.000 Einwohner.
„Ein systematischer Ansatz zur Fehlervermeidung und Sicherheitskultur wäre ökonomisch hoch wirksam“, sagte Busse. Es müsse als Teil der Versorgungsstrategie betrachtet werden, nicht als kostspieliger Nebeneffekt.
DKG-Kritik an Annahmen für Kosten in Deutschland
Die DKG wertete die Angaben zu möglichen ökonomischen Schäden als „methodisch höchst fragwürdig“, wie sie mitteilte. Internationale Studien mit sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen und Datengrundlagen würden hier eins zu eins auf Deutschland übertragen und zusätzlich noch mit pauschalen Zuschlagsfaktoren versehen.
„Solche Berechnungen mögen auf den ersten Blick beeindruckende Zahlen liefern, sie sind aber keine belastbare Grundlage für politische Entscheidungen. Von den ‚Kosten einer unsicheren Versorgung‘ zu sprechen, ist mehr Angstmacherei als Wissenschaft“, erklärte Gaß.
Andere Organisationen sehen Handlungsbedarf
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) forderte die Entwicklung eines Nationalen Aktionsplans zum Thema, denn es mangele an systematischen Strukturen zum Vermeiden von Fehlern. „Dass wir seit zwei Jahrzehnten über Sicherheitskultur sprechen, aber noch immer keine verbindliche nationale Strategie haben, zeigt: Hier liegt enormes Potenzial für die Politik“, teilte die APS-Vorsitzende Ruth Hecker mit.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) nannte die neuen Zahlen ein „ernstzunehmendes Warnsignal“. Lücken bei Patientenrechten müssten endlich geschlossen werden – unter anderem mit einer gesetzlichen Pflicht zur Offenlegung von Fehlern und Sanktionen bei Informationsverweigerung.
Nach Angaben der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) gehen viele einem vermuteten Behandlungsfehler gar nicht nach. „Das hat auch mit den hohen juristischen Hürden zu tun, mit denen die Betroffenen konfrontiert sind“, sagte die Chefin des Bundesverbands, Carola Reimann. Oft sei es „extrem schwer“, einen kausalen Zusammenhang zwischen einem Fehler und einem entstandenen Schaden zu beweisen. Die Beweislast müsse gesenkt werden.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte unter anderem, dass die Beteiligung an bestehenden Meldesystemen für kritische Ereignisse bislang freiwillig sei. Arztpraxen und Krankenhäuser müssten verpflichtet werden, an CIRS-Systemen aktiv mitzuwirken. Zudem brauche es einen Härtefallfonds, da Betroffene oft viele Jahre auf Schadenersatz warten müssten.
„Der klare Appell des MD Bund für ein bundesweites Never-Event-Register ist überfällig und auch uns Grünen ein dringendes Anliegen“, kommentierte die Bundestagsabgeordnete Linda Heitmann (Grüne). Das im Rahmen der Gesetzgebung zur Krankenhausreform verankerte Register müsse nun endlich kommen. „Wir haben als Grüne ein Auge darauf, dass dieser Punkt bei der Verwässerung der Krankenhausreform nicht zurückgedreht wird.“
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