

An der Universität Bonn lernten Studierende schon vor der Pandemie, wie virtuelles Behandeln funktioniert. Medizininformatik steht auf dem Lehrplan. Ein Besuch am Bonner Venusberg – noch „vor Corona“.
Die – fiktiven – Ärzte „Herr Dr. med. Müller“ und „Frau Dr. med. Krämer“ nehmen in einem kleinen Räumchen hinter dem Behandlungszimmer Platz. Vor ihnen auf dem weißen Schreibtisch: ein in einer Halterung verankertes Tablet. Seitlich hinter ihnen: eine Kamera, die aufzeichnen wird, was gleich passiert: Dr. med. Müller und Dr. med. Krämer, in Wirklichkeit beides Bonner Medizinstudierende, werden eine ältere Patientin via Videosprechstunde konsultieren – so sieht es das universitäre Rollenspiel vor. Diese, „Seniorin Schmitz“, sitzt demnach in ihrem Wohnzimmer irgendwo in einem rheinländischen Dorf, in Wahrheit aber nur drei Türen weiter in einem weiteren Lehrraum. Auch die Patientin wird von einer Kamera beobachtet. Die gesamte Szenerie – Ärzte und Patientin in Interaktion – wird im Doppelscreen auf eine große Leinwand im Hauptseminarraum ausgespielt, wo Studienkollegen von Dr. med. Müller und Dr. med. Krämer das Schauspiel an einem Konferenztisch beobachten.
Und los geht es: Dr. med. Müller stellt via Tablet die Verbindung her. Patientin Schmitz – in Gesellschaft ihrer Tochter – nimmt den Videoanruf an. „Können Sie uns hören?“, fragt der Student in seiner Arztrolle und blickt dabei auf den Tablet-Bildschirm. „Wir hören Sie sehr gut“, kommt es von Patientin Schmitz zurück, die laut Plan an einem Erysipel am Bein leiden soll. Was folgt, ist ein ziemlich „normales“ Arzt-Patienten-Gespräch, wie es in ähnlicher Form auch in der Praxis stattfinden könnte. Wie fühlen Sie sich? Seit wann haben Sie die Beschwerden? Schmerzt die Stelle? Haben Sie Fieber?
Das Ergebnis dieser virtuellen Sprechstunde: Keiner der Ärzte muss zum Hausbesuch rausfahren. Und Frau Schmitz muss sich auch nicht in die Praxis quälen. Stattdessen geht ein digitales Rezept an die Apotheke im Dorf und die Tochter von Frau Schmitz wird das Medikament für die Mutter dort abholen. Das studentische Ärzteduo klärt am Ende des Videoanrufs noch zur Einnahme des Medikaments auf, lässt die Tochter die betroffene Stelle am Bein mit der Kamera des Tablets umkreisen und vereinbart ein Folgegespräch. Nach wenigen Minuten legt Dr. med. Müller auf. Die Verbindung ist gekappt, der virtuelle Hausbesuch beendet.
Seit circa einem Jahr machen die Rheinländer am Institut für Hausarztmedizin Versuche wie diese. „Wir wollen Möglichkeiten und Grenzen der Telemedizin darstellen“, erläutert Prof. Dr. med. Birgitta Weltermann, Direktorin des Instituts für Hausarztmedizin der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. „Und damit den Studierenden zeigen, was sie in fünf oder sechs Jahren in der Medizin erwarten können – vielleicht.“ Eine PJ-Lehrveranstaltung dieser Art sei „derzeit vermutlich einmalig in der Bundesrepublik“, sagt Weltermann.
Virtuelle Sprechstunden sind erst der Auftakt in das Zeitalter der digitalen Medizinlehre. Künftig folgt noch viel mehr. Das, was Weltermann derzeit mit Studierenden im PJ-Seminar in den Räumen der Universitätsklinik auf dem Bonner Venusberg austestet, soll mit einfließen in etwas Größeres.
Die Universität Bonn hat kürzlich eine Zusammenarbeit mit der Universität Siegen in der Medizinerausbildung bekannt gegeben. Denn: Die Bonner wollen in der medizinischen Lehre neue Wege gehen, Studenten auf die Arztrolle von morgen vorbereiten und Lücken in der Versorgung der Hausarztmedizin schließen – vor allem auf dem Land. Der digitalen Medizin komme dabei eine Schlüsselrolle zu, wie es in Bonn heißt.
Die Idee: In einem neu etablierten Studiengang „Humanmedizin Bonn-Siegen“, der einen Schwerpunkt auf die Allgemeinmedizin/Landarztmedizin legt, erhält neben der klassischen Medizinerlehre Digitales und Technisches viel Raum. Aspekte der digitalen Medizin wie virtuelle Hausbesuche, digitale Diagnostik und der Nutzen digitaler Gesundheitsdaten werden Themen sein. Und: Auf dem Lehrplan werden Fächer wie Medizininformatik und Medizintechnik auftauchen. Genau auf diesen Gebieten hat sich die Universität Siegen bereits einen Namen gemacht. Durch die Synergie der beiden Universitäten soll nun etwas Neues entstehen.
„Wir denken, dass wir für die Versorgung der Zukunft jetzt die Weichen stellen müssen. Digitale Kompetenzen und neue Rollenbilder der zukünftigen Mediziner müssen verstärkt abgebildet werden“, erläutert Prof. Dr. med. Bernd Weber, Prodekan für Lehre und Studium der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn.
Der Ansatz: Die etablierte medizinische Lehre aus Bonn, Bonner Innovationen auf dem Feld der digitalen Medizin sowie die digital und technisch ausgerichteten Inhalte des Standortes Siegen sollen in ein gemeinsames Curriculum einfließen. Für die Kombination dieser Bereiche werde es Zeit, so Weber. Die Struktur: Das vorklinische Studium und die klinisch-theoretischen Fächer finden in Bonn statt. Das anschließende klinische Studium erfolgt unter der Leitung der Universität Bonn an vier Siegener Partnerkliniken.
Langfristiges Ziel der Zusammenarbeit ist den beiden Hochschulen zufolge, in den ländlichen Regionen im Einzugsgebiet der beiden Universitäten eine stark digitalisierte, hochmoderne und flexible Gesundheitsversorgung aufzubauen. Von den Entwicklungen im neuen Studiengang „Humanmedizin Bonn-Siegen“ sollen später auch die anderen Studierenden des Standorts Bonn profitieren. Nach und nach werden erfolgreich erprobte Inhalte in den regulären Medizinstudiengang integriert.
Der Startschuss für das Studium zur Hausarztmedizin im Digitalzeitalter ist bereits gefallen. 25 Studierende haben das Studium zum Wintersemester 2018/19 aufgenommen, in diesem Herbst folgen die nächsten 25. Der Andrang auf den neuen Studiengang war nach Angaben der Universität Bonn groß. Zum Auftakt gab es 2 500 Bewerbungen auf die 25 Plätze.
Zurück im Lehrsaal. Dr. med. Müller und Dr. med. Krämer kehren zu ihren Kommilitonen an den Konferenztisch zurück und dürfen nun wieder Studenten sein. Auch die Schauspielpatientinnen Schmitz und Tochter gesellen sich dazu. „Und, wie war es?“, fragt Weltermann in die Runde. Und fast alle haben etwas zu sagen.
Dr. med. Krämer: „Es war sehr gut, dass eine Angehörige mit dabei war. In Eins-zu-eins-Gespräch fände ich eine solche Situation schwer.“
Dr. med. Müller: „Man kann schlechter unterbrechen, weil man sich nicht persönlich gegenübersitzt. Wenn ein Patient viel redet, könnte das schwierig werden.“
Tochter: „Beide Ärzte waren sehr emphatisch. Es war eine normale Unterhaltung, trotz der Technik. Ich fühlte mich gut aufgehoben.“
Patientin Schmitz: „Der freundliche Gesichtsausdruck der Ärztin kam sehr gut rüber. Keiner ist dem anderen ins Wort gefallen. Es war so, als säße man in der Praxis.“
Beobachtender Student: „Es muss sich noch viel entwickeln, bis das flächendeckend funktioniert. Es hakt an vielen Stellen, zum Beispiel beim E-Rezept. Wenn man das nicht löst, kann man das ganze Prozedere gleich in die Praxis verlagern.“
Beobachtende Studentin: „Es war wie erwartet. Gespräche via Tablets, das kennt unsere Generation. Es ist ein netter Kompromiss. Aber es wirkt nicht so zwischenmenschlich wie in der Praxis.“
An die beiden „Ärzte“ gewandt fragt Dozentin Weltermann: „Können Sie sich vorstellen, so zu praktizieren?“ Bei Herrn Dr. med. Müller fällt die Antwort klar und knapp aus: „Auf jeden Fall.“ Frau Dr. med. Krämer offenbart Interessantes: „Ich hätte vorher gedacht: nein. Aber jetzt denke ich, ja, das kann ich mir auf jeden Fall vorstellen.“
Allein das kurze Rollenspiel und die Feedbackrunde machen deutlich: Bis virtuelle Hausbesuche die Hausarztmedizin durchdrungen haben, ist es noch ein weiter Weg. Denn die „Möglichkeiten und Grenzen“, die Wiedemann in ihrem Seminar aufzeigen will, liegen in Deutschland derzeit noch dicht beieinander. Die Technik muss funktionieren. Patienten müssen mitmachen. Ärzte offen sein. Eventuell MFA geschult werden, die Ärzte bei der Telemedizin unterstützen. Schlechte Akustik, schlechte Bildqualität, wacklige Bilder – das sind eher die kleineren Probleme, die es auf dem Weg in das Zeitalter der digitalen hausärztlichen Versorgung zu lösen gilt.
Immerhin: Die Theorie sitzt bei der neuen Ärztegeneration bereits. Die anwesenden Studenten sind über die modernen medizinischen Ansätze gut informiert. Was ist Telemedizin? Antwort: „Elektronische Kommunikation zwischen Arzt und Patient.“ Was für Formen die Studenten kennen? „Videosprechstunde, digitale Diagnostik.“ Was ist mit Blick auf Technik und Sicherheit wichtig? „Der Arzt muss einen zertifizierten Anbieter wählen. Er muss über andere Personen im Raum aufklären, darf keine Aufzeichnungen erstellen.“
Die Fragen nach Definition, Nutzen, Verfahren, Technik, Datenschutz, Zulassungen, Voraussetzungen und zugelassene Behandlungen kann Weltermann in ihrem Seminar schnell abhandeln. Telemedizin, das wird deutlich, ist für junge Medizinstudenten kein böhmisches Dorf.
Weltermann und die Verantwortlichen der Universität Bonn wollen die Studierenden mit neuen, modernen Studieninhalten auf die Herausforderungen der digitalen Medizin einstellen und die Landarztmedizin stärken. Hier gilt die Telemedizin bekanntlich als Hoffnungsträger.
Doch: Ein Allheilmittel sieht Weltermann in der digitalen Medizin nicht. „Haben Sie stets ein waches Auge, ob das auch wirklich funktioniert“, mahnt sie die Studenten. Und erarbeitet mit ihnen gemeinsam eben nicht nur die Möglichkeiten einer Videosprechstunde, sondern auch deren Besonderheiten und Grenzen.
Eine der Besonderheiten liegt hier: „Sie müssen lernen, den Patienten vor der Kamera zu lenken“, sagt die Professorin. Es geht um Aufforderungen wie: „Würden Sie Ihrer Mutter bitte helfen, die Hose auszuziehen?“ „Könnten Sie bitte die Lichtquelle anders drehen?“ „Ich möchte bitte das zweite Bein zum Vergleich sehen.“ „Können Sie die Kamera bitte anders ausrichten.“
Auch die Grenzen sind schnell benannt. Denn klar ist: Bei einer telemedizinischen Konsultation ist einiges anders. Hören? Passt. Sehen? Passt. Fühlen? Fehlanzeige. Riechen? Fehlanzeige. „Es fehlen Ihnen zwei Sinne. Abtasten, zum Beispiel, geht nicht. Und damit gibt es Sachen, die wir in einer telemedizinischen Konsultation nicht abklären können“, macht Weltermann deutlich. „Akute Bauchschmerzen zum Beispiel, das geht via Telemedizin nicht.“
Und weiter: „Im Zweifel: zum Patienten rausfahren. In dem Moment, wo ich ein Videogespräch führe, bin ich für die Sicherheit des Patienten verantwortlich.“ ■