Studierender Blick
Erst Überblick, dann Tiefenblick
Dienstag, 22. Juli 2014
Charmant ist diese Idee schon, nach 6 Jahren Studium die
groben Züge der Medizin zu beherrschen. Von dort aus ist der approbierte Arzt
in jedem Fach einsetzbar – quasi wie eine pluripotente Stammzelle, könnte man
witzeln. Nur, gibt es diesen Mythos eines allgemein versierten Arztes noch im
Zeitalter der stetigen Spezialisierung?
Ich befürchte, dass die meisten Studiengänge noch nicht
mit der Zeit gehen. Ein fertig studierter Arzt kann schlichtweg nur die
Schlaglichter der erlernten Inhalte behalten. Er erinnert sich noch an dieses
oder jene Symptom, welches er in der Vorlesung erkannt hat, aber nicht mehr an alle
höchstspezifischen Antikörper, die zu der Pathologie geführt haben. Dennoch
wird von ihm erwartet, all dieses (auch nur für einen kurzen Moment in
der Prüfung) abrufbereit zu haben. Diese Rechnung geht nur in der zu
spezialisierenden Weiterbildung auf, nicht im „allgemeinen“ Studium.
Die Studiengänge sollten stärker darauf preschen
„Überschriften“ zu vermitteln: Symptomkomplex „akuter Oberbauch“ ->
Erbrechen/Durchfall/Nahrungsverhalten? -> Labor/ÖGD? -> Diagnose ->
Therapie -> Prävention. Braucht der künftige Neurologe oder Dermatologe mehr
als solche oder ähnliche „Überschriften“ allzeit parat in seinem Kopf?
Ich behaupte, wenn auch extrem simplifiziert, dass der
heutige Studierende letztlich einer Fähigkeit bedarf, um im späteren
Berufsalltag zu überleben: Kritisch den Überblick behalten. Vielleicht ist das
der Grund, warum die Lernplattform „Amboss“ so außergewöhnlich gut von
Studierenden angenommen wird, denn sie schult vor allem das ungeübte Auge nach
6 Jahren Informationsflut/Studium.
Studierende sollen allerorts lernen, wie man Schemen
kritisch betrachtet. Sie sollen die richtigen Fragen stellen, die Fährte spüren
und letztlich mit einer kalkulierten Sicherheit sagen können, wie sie in einem
kniffligen Fall verfahren. Es gibt kaum noch den Ärztetyp „Einzelkämpfer“, der
auf dem Land alleine und ohne jeglichen Rückhalt (Internet, Bücher, Kollegen)
einen Notfall nach dem anderen zu entscheiden hat.
Das System ist nicht mehr so
wie es vor 50 Jahren war – unsere Studiengänge teilweise schon. Also spreche
ich mich für eine Didaktik aus, die in den ersten Schritten der Diagnostik eine
Pragmatisierung des Prozesses anstrebt. Dennoch propagiere ich fest überzeugt
die forschungsorientierte Landschaft der Hochschulmedizin und ihren festen
Stellenwert im Curriculum – nur kann der Studierende nicht viel mit
bahnbrechender Molekularbiologie anfangen, wenn er nicht von Beginn an zwei
sehr ähnliche Krankheitsbilder voneinander trennen kann.
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