Mit Standardimpfungen einem Erkrankungsrisiko zuvorkommen
Eine Erkrankung oder eine immunsuppressive Behandlung, die das Immunsystem nachhaltig schwächen, können bei jedem Menschen und jederzeit auftreten. In diesen Situationen können Infektionen schwerer und komplikationsreicher verlaufen als bei immungesunden Menschen. Ein optimaler Impfstatus bei (noch) gesunden "Patientinnen" und "Patienten" entsprechend den aktuellen STIKO-Empfehlungen ist deshalb stets empfehlenswert.
Autorin: Andrea Warpakowski

Für Erwachsenen ohne Vorerkrankung, die nur für eine Krankschreibung, eine Erkältung, Magen- oder Rückenschmerzen in die Praxis kommen, stehen Impfungen nicht im Vordergrund. Das spiegelt sich in den Impfquoten nieder. Die Quoten aller von der Ständigen Impfkommission (STIKO) für Erwachsene empfohlenen Routineimpfungen liegen unter 50%, manche weit darunter [1]. Zu diesen Impfungen gehören Diphtherie, Tetanus und Pertussis, die Influenza und Pneumokokkenimpfung, die Herpes-zoster-Impfung, die Masernimpfung sowie die Impfung gegen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), die inzwischen für weite Teile Deutschlands empfohlen wird (weitere Informationen hier).
Tabelle 1: Nachhol-, Standard- und Indikationsimpfungen ab 18 Jahren (Stand 24. April 2023)
(Kurzfassung; Langfassung siehe hier)
Status überprüfen | Standardimpfung | |
Tetanus | x | (1) |
Diphtherie | x | (1) |
Pertussis | x | (2) |
Poliomyelitis | x | |
Hepatitis B | x (3) | |
Pneumokokken | Ab 60 einmalig 2 Impfungen (4) | |
Masern, Mumps, Röteln | x (4, 5) | |
Varizellen | x (5) | |
HPV | x (6) | |
Influenza | Ab 60 jährlich (4, 8) | |
Herpes Zoster | Ab 60 einmalig 2 Impfungen (9) | |
SARS-CoV2 | Ab 60 jährlich (4) | |
FSME | x | Bei anzunehmender Exposition |
1 Tetanus, Diphtherie alle 10 Jahre
2 einmalig im Erwachsenenalter, am Ende jeder Schwangerschaft und immer bei zu erwartendem Kontakt mit Neugeborenen und Säuglingen
3 v.a. bei Personen mit erhöhtem Risiko aufgrund von Beruf, Schwächung des Immunsystems, häufiger Übertragung von Blut(bestandteilen), Sexualverhalten (MSM), Bewohnern von Fürsorgeeinrichtungen, Reisen
4 oder als Indikationsimpfung bei Vorerkrankungen und geschwächtem Immunsystem
5 Nachimpfung bei Frauen im reproduktionsfähigen Alter
6 ggf. Nachimpfung bis zum 25. LJ
7 HPV Keine Lebendimpfungen bei geschwächtem Immunsystem
8 ab 2. Trimester in jeder Schwangerschaft
9 Als Indikationsimpfung bei Vorerkrankungen und geschwächtem Immunsystem ab 50
Ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe von impfvermeidbaren Infektionen besteht für Menschen mit Erkrankungen der Atmungsorgane, chronischen Herz-, Kreislauf-, Leber- und Nierenerkrankungen, Diabetes mellitus und anderen Stoffwechselerkrankungen, chronischen neurologischen Erkrankungen sowie angeborener oder erworbener Immundefizienz bzw. Immunsuppression [1]. Für diese Personengruppen werden die Impfungen als Indikationsimpfungen unabhängig vom Alter empfohlen [2-7]. Auch wenn sich Erwachsene für nicht gefährdet halten, ist das Erkrankungsrisiko für einige der oben genannten Krankheiten nicht gering. Zudem steigt der Einsatz vielfältiger Immunmodulatoren in der gesamten Medizin und erhöht damit die Zahl der Patientinnen und Patienten, die eine sekundäre Störung der Immunabwehr und damit erhöhte Infektionsrisiken aufweisen [3]. Für die Autoimmunerkrankungen Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Psoriasis und rheumatoide Arthritis stieg die Diagnoseprävalenz zwischen 2011 und 2018 in Deutschland an; sie betrug über 4 % im Jahr 2018 [8]. Gleichzeitig nahm das Verordnungsvolumen von Biologika bei Autoimmunpatienten stetig und über die sieben Jahre um 92 % zu. Auch die Anzahl der molekular definierten, primären Immundefekte hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Insbesondere in dieser Patientengruppe ist die Zurückhaltung bei Impfungen groß, da Bedenken hinsichtlich Impfeffektivität und Verstärkung der Grunderkrankung bestehen, wobei die Anwendungshinweise der STIKO zu den empfohlenen Impfungen bei primären Immundefekterkrankungen, Autoimmunerkrankungen sowie onkologischen und hämatologischen Erkrankungen zu beachten sind [4-7].
Aus all den aufgeführten Gründen ist es sinnvoll, Standard- und Auffrischimpfungen bei allen Erwachsenen durchzuführen, ehe Erkrankungen auftreten, die die Immunabwehr oder auch die Wirkung der Impfungen beeinträchtigen.
Das epidemiologische Ausmaß derartiger Vorerkrankungen soll durch die nachfolgenden Statistiken untermauert werden.
Prävalenz von Volkskrankheiten
Laut der Statistik Gesundheitsberichterstattung des Bundes weist in Deutschland jeder zweite Erwachsene einen erhöhten arteriellen Blutdruck auf (Tabelle 2) [9], darunter zwei von drei Menschen ab dem 65. Lebensjahr (syst. RR ≥ 140 mmHg und/oder diast. RR ≥- 90 mmHg mit oder ohne antihypertensive Therapie). 15,1 % aller Männer und 8,1 % aller Frauen zwischen 55 und 59 Jahren leiden an einer bedeutsamen kardiovaskulären Erkrankung (Tabelle 3) (10).
Tabelle 2: Prävalenz der arteriellen Hypertonie (9)
Frauen | Männer | |
18-29 Jahre | 4,2 | 4,4 |
30-44 Jahre | 9 | 14,5 |
45-64 Jahre | 31,6 | 38,3 |
≥ 65 Jahre | 63,8 | 65,1 |
Tabelle 3: Altersspezifische Lebenszeitprävalenz einer bedeutsamen kardiovaskulären Erkrankung (19)
Frauen | Männer | |
18-24 Jahre | 0,9 | 1,3 |
25-29 Jahre | 1,1 | 1,6 |
30-34 Jahre | 1,8 | 1,7 |
35-39 Jahre | 1,7 | 3,5 |
40-44 Jahre | 2,6 | 3,7 |
45-49 Jahre | 4,3 | 5,5 |
50-54 Jahre | 5,8 | 11,1 |
55-59 Jahre | 8,1 | 15,6 |
60-64 Jahre | 11,1 | 21,6 |
65-69 Jahre | 16,5 | 25,6 |
70-74 Jahre | 25,0 | 34,7 |
75-79 Jahre | 32,2 | 43,9 |
≥ 80 Jahre | 42,6 | 50 |
Auch ein Diabetes mellitus beeinträchtigt die Infektabwehr, was das Risiko erhöht, dass Infektionskrankheiten einen schweren, komplizierten Verlauf nehmen. Die Inzidenz des Diabetes mellitus liegt nach Angaben des Robert Koch-Instituts (11) bei Frauen zwischen 45 und 64 Jahren bei 5,2%, bei Männern im gleichen Alter bei 9,3% (Tabelle 4), wobei das RKI nicht zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes unterscheiden kann.
Tabelle 4: Prävalenz des Diabetes mellitus
Frauen | Männer | |
18-29 Jahre | 1,1 | 0,5 |
30-44 Jahre | 1,4 | 2,0 |
45-64 Jahre | 5,2 | 9,3 |
≥ 65 Jahre | 17,6 | 21,1 |
Vor allem bei jüngeren Menschen stellen Asthma bronchiale und gegebenenfalls die dazu gehörende Therapie mit Corticoiden und anderen Immunmodulatoren ein Risiko für komplizierte Infektionsverläufe dar, etwa bei Influenza und Pneumokokken. So gaben 6% der Über-18-Jährigen an, in den letzten 12 Monaten Asthma bronchiale gehabt zu haben (Tabelle 5) [12]. Der Anteil der Frauen war mit insgesamt 7,1% höher als bei den Männern mit 5,4%.
Tabelle 5: Prävalenz von Asthma bronchiale
Frauen | Männer | |
18-29 Jahre | 7,8 | 3,6 |
30-44 Jahre | 6,4 | 5,1 |
45-64 Jahre | 7,1 | 6,3 |
≥ 65 Jahre | 7,1 | 5,5 |
Anders als beim Asthma bronchiale steigt die Prävalenz von COPD mit dem Alter sehr viel stärker an (Tabelle 6). Die 12-Monats-Prävalenz einer bekannten COPD beträgt bei Frauen 5,8 % und bei Männern 5,7 %; ab 65 Jahre beträgt die Prävalenz 11-12,5% [13].
Tabelle 6: Prävalenz von COPD
Frauen | Männer | |
18-29 Jahre | 2,4 | 1,3 |
30-44 Jahre | 3,4 | 2,0 |
45-64 Jahre | 5,1 | 6,3 |
≥ 65 Jahre | 11 | 12,5 |
Im Jahr 2018 wurden schätzungsweise rund 500.000 Krebserkrankungen neu diagnostiziert und rund 1,6 Mio. Menschen lebten mit einer Krebserkrankung, die in den letzten 5 Jahren diagnostiziert wurde (Tabelle 7) [14, 15]. Für fast alle Krebsarten steigt das Erkrankungsrisiko mit dem Alter an. Eine Krebserkrankung erfordert in aller Regel einen zügigen Therapiebeginn, so dass auf Vervollständigen des Impfpasses nicht gewartet werden kann. Eine Therapie mit Zytostatika setzt darüber hinaus in vielen Fällen die Wirksamkeit von Impfungen erheblich herab, so dass notwendige Impfungen nicht den gewünschten Immunschutz erzielen.
Tabelle 7: 5-Jahres-Prävalenz von Krebserkrankungen
Frauen | Männer | |
0-44 Jahre | 0,3 | 0,2 |
45-54 Jahre | 1,9 | 1,0 |
55-64 Jahre | 2,8 | 1,0 |
65-74 Jahre | 4,0 | 6,0 |
≥ 75 Jahre | 4,5 | 7,4 |
Für die Prävalenz der Autoimmunerkrankungen liegen Daten aus dem Versorgungsatlas des Zentralinstituts der KBV vor, allerdings ohne eine Einteilung in Altersgruppen (8). Danach sind über alle Altersstufen etwa 4,1% der Bevölkerung an einer Autoimmunerkrankung erkrankt wie rheumatoide Arthritis, Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa, Multipler Sklerose, Psoriasis und anderen. Bei vielen dieser Patientinnen und Patienten werden immunsupprimierende Arzneimittel verordnet, was einerseits die Infektabwehr, andererseits aber auch die Wirksamkeit von Impfungen herabsetzt. Mit Impfungen kann in dieser Situation kein so effektiver Immunschutz erreicht werden, wie es ohne die Immunsuppression möglich wäre.
Fazit für die Praxis
Jeder gesunde Erwachsene trägt ein schwer einzuschätzendes Risiko, in absehbarer Zeit eine Erkrankung zu entwickeln, die die Infektabwehr und/oder die Wirkung von Impfungen abschwächt.
Standardimpfungen sollten deshalb bei allen Erwachsenen regelmäßig überprüft und entsprechend dem STIKO-Schema aufgefrischt werden.
Quellenverzeichnis
1. Robert Koch-Institut. Impfquoten bei Erwachsenen in Deutschland. Epid Bull 49/2022, 8. Dezember 2022
2. Robert Koch-Institut. Empfehlungen der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut 2023. Epid Bull 4/2023, 26. Januar 2023.
3. Niehues T, Bogdan C, Hecht J, Mertens T, Wiese-Posselt M, Zepp F: Impfen bei Immundefizienz. Grundlagenpapier (I). Bundesgesundheitsbl 2017; 60:674–684; DOI 10.1007/s00103-017-2555-4
4. Impfen bei Immundefizienz. Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (II) Impfen bei 1. Primären Immundefekterkrankungen und 2. HIV-Infektion. Bundesgesundheitsbl 2018; 61:1034–1051; https://doi.org/10.1007/s00103-018-2761-8
5. Wagner N, Assmus F, Arendt G, Baum E, Baumann C, Müller-Ladner U, Niehues T, Überla K, Vygen-Bonnet S, Weinke T, Wiese-Posselt M, Woycinski M, Zepp F et al.: Impfen bei Immundefizienz. Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (IV) Impfen bei Autoimmunkrankheiten, bei anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen und unter immunmodulatorischer Therapie. Bundesgesundheitsbl 2019; 62:494–515; https://doi.org/10.1007/s00103-019-02905-1
6. Laws HJ, Baumann U, Bogdan C, Burchard G, Christopeit M, Hecht J, Kling K, Zepp F et al.: Impfen bei Immundefizienz. Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (III) Impfen bei hämatologischen und onkologischen Erkrankungen (antineoplastische Therapie, Stammzelltransplantation), Organtransplantation und Asplenie. Bundesgesundheitsbl 2020; 63:588–644; https://doi.org/10.1007/s00103-020-03123-w
7. Laws HJ, Baumann U, Bogdan C, Burchard G, Christopeit M, Hecht J, Kling K, Zepp F et al.: Erratum zu Impfen bei Immundefizienz. Anwendungshinweise zu den von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen. (III) Bundesgesundheitsbl 2020 · 63:1300–1302; https://doi.org/10.1007/s00103-020-03179-8
8. Holstiege J, Klimke K, Akmatov MK, Kohring C, Dammertz L, Bätzing J. Bundesweite Verordnungstrends biologischer Arzneimittel bei häufigen Autoimmunerkrankungen, 2012-2018. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi). Versorgungsatlas-Bericht Nr. 21/03. Berlin 2021. URL: https://doi.org/10.20364/VA-21.03
9. Robert Koch-Institut. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Hypertonie. 2008 (43)
10. Dornquast C, Kroll L, Neuhauser HK, Willich SN, Reinhold T, Busch MA: Regionale Unterschiede in der Prävalenz kardiovaskulärer Erkrankungen. Ergebnisse der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA) 2009–2012. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 704-11; DOI: 10.3238/arztebl.2016.0704.
11. Heidemann C, Kuhnert R, Born S, Scheidt-Nave C. 12-Monats-Prävalenz des bekannten Diabetes mellitus in Deutschland. Journal of Health Monitoring · 2017 2(1). DOI 10.17886/RKI-GBE-2017-008
12. Steppuhn H, Kuhnert R, Scheidt-Nave C: 12-Monats-Prävalenz von Asthma bronchiale bei Erwachsenen in Deutschland. Journal. of Health Monitoring · 2017 2(3). DOI: 10.17886/RKI-GBE-2017-052
13. Steppuhn H, Kuhnert R, Scheidt-Nave C: 12-Monats-Prävalenz der bekannten chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) in Deutschland. Journal of Health Monitoring · 2017 2(3). DOI 10.17886/RKI-GBE-2017-053.
14. Krebs in Deutschland für 2017/2018. 13. Ausgabe. Robert Koch-Institut (Hrsg) und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (Hrsg). Berlin, 2021. DOI: 0.25646/8353.
15. Zentrum für Krebsregisterdaten des Robert Koch-Instituts. www.krebsdaten.de. Online-Datenbankabfrage 5-Prävalenz von Krebserkrankungen im Jahr 2019 am 19. April 2023