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Polio-Wildvirus in Hamburger Abwasser: Sehr geringes Risiko – aber Impflücken erfordern Aufmerksamkeit

  • Montag, 24. November 2025
  • Quelle: European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC)

Der erstmalige Nachweis von Poliowildvirus Typ 1 in einer Abwasserprobe in Hamburg – bislang wurden bei allen Abwasseruntersuchungen in Deutschland und in Europa immer nur attenuierte, aus Impfungen stammende Polioviren gefunden – bedeutet trotz sehr geringer Gefährdungslage Handlungsbedarf im Hinblick auf die Impfquote. Poliomyelitis ist durch die hohe Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe vermeidbar, doch aktuelle Daten belegen, dass in Deutschland insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern Impflücken bestehen. Der aktuelle Fund unterstreicht die Bedeutung einer konsequenten Impfprophylaxe und eines wachsamen Surveillance-Systems.

/TuMeggy, stock.adobe.com
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Ungewöhnlicher Virennachweis in Deutschland – ohne klinische Fälle

Am 6. Oktober 2025 wurde im Rahmen des RKI-Forschungsprojekts „Polioviren im Abwasser“ erstmals eine Abwasserprobe aus Hamburg positiv auf Polio-Wildvirus Typ 1 (WPV1) getestet. Der Fund wurde am 11. November an das ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) gemeldet. Klinische Poliofälle oder Verdachtsmeldungen liegen bislang nicht vor. Die letzte in Deutschland erworbene WPV-bedingte Poliomyelitis wurde 1990 registriert, importierte Fälle zuletzt 1992.

Die genomische Analyse zeigt eine enge Verwandtschaft zu einem Cluster aus Afghanistan – einem der beiden Länder (neben Pakistan), in denen WPV1 weiterhin endemisch zirkuliert. Der Nachweis lässt darauf schließen, dass mindestens eine infizierte Person das Virus zum Zeitpunkt der Probenentnahme in Hamburg ausgeschieden hat. Hinweise auf eine lokale Transmission gibt es nicht.

Abgrenzung zu zirkulierenden impfstoffabgeleiteten Polioviren (cVDPV2)

Bereits seit Ende 2024 werden in mehreren deutschen Regionen zirkulierende impfstoffabgeleitete Polioviren Typ 2 (cVDPV2) in Abwasserproben nachgewiesen. Auch andere europäische Länder berichten entsprechende Funde.

Zwischen dem jetzt detektierten WPV1 und den cVDPV2-Nachweisen besteht jedoch kein Zusammenhang. Es handelt sich um verschiedene Virustypen mit unterschiedlichen epidemiologischen Hintergründen. Beide können bei ungeimpften oder unvollständig geimpften Personen Poliomyelitis verursachen. Der in Deutschland verwendete Totimpfstoff (IPV) schützt zuverlässig vor der Erkrankung, verhindert jedoch nur begrenzt eine Infektion oder Weitergabe des Virus.

Risikoabschätzung: Sehr gering – trotz relevanter Impflücken bei Kleinkindern

ECDC und Robert Koch-Institut (RKI) bewerten das Risiko für die Bevölkerung als sehr gering. Ausschlaggebend sind die insgesamt hohe Grundimmunisierung der Bevölkerung sowie der isolierte Einzelfund ohne Hinweise auf eine lokale Transmission.

Gleichzeitig zeigen aktuelle Daten, dass insbesondere bei jungen Kindern erhebliche Impflücken bestehen, da die Impfserie häufig zu spät abgeschlossen wird:

  • Die Grundimmunisierung gegen Polio sollte bis zum 12. Lebensmonat abgeschlossen sein.

  • Tatsächlich verfügen zu diesem Zeitpunkt nur 21 % der Kinder über einen vollständigen Impfschutz.

  • Mit 2 Jahren sind lediglich 77 % vollständig geimpft.

  • Die vollständige Polio-Impfquote im Alter von 24 Monaten variiert deutlich zwischen den Bundesländern: von 69 % (Baden-Württemberg) bis 82 % (Niedersachsen).

Diese Defizite führen dazu, dass trotz insgesamt hoher Impfquoten ein – wenn auch geringes – Risiko für sporadische Erkrankungen bei ungeimpften oder unvollständig geimpften Personen bestehen bleibt.

Fazit für den Versorgungsalltag

Obwohl die WHO-Region Europa weiterhin als poliofrei gilt, bleibt das Risiko einer Wiedereintragung bestehen, solange Polioviren in wenigen Ländern endemisch zirkulieren. Nachweise von WPV1 außerhalb Afghanistans und Pakistans – etwa im Iran (2019), Malawi (2021) und Mosambik (2022) – unterstreichen die Bedeutung einer kontinuierlichen globalen und nationalen Surveillance.

Der einmalige WPV1-Nachweis im Hamburger Abwasser stellt keinen Anlass zur Beunruhigung dar und liefert derzeit keine Hinweise auf eine lokale Transmission. Für den Versorgungsalltag bleibt jedoch entscheidend, dass bestehende Impflücken – insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern – konsequent adressiert werden. Eine hohe und rechtzeitig erreichte IPV-Impfquote bleibt der zentrale Schutz, um auch künftig das Auftreten von Poliofällen zu verhindern und die Poliofreiheit in Europa nachhaltig zu sichern.


Quellen

  1. European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), Pressemitteilung vom 13. November 2025; https://www.ecdc.europa.eu/en/news-events/detection-wild-poliovirus-wastewater-germany-risk-and-recommendations

  2. Robert Koch-Institut (RKI): Polio-Wildviren Typ 1 in Abwasserprobe in Hamburg nachgewiesen. Epidemiologisches Bulletin 46/2025; 13.11.2025; https://www.rki.de/DE/Aktuelles/Publikationen/Epidemiologisches-Bulletin/2025/46_25

  3. Robert Koch-Institut (RKI), Fachgebiet Impfprävention/STIKO: Impfquoten in Deutschland: Begleitfolien zu aktuellen Ergebnissen aus dem RKI-Impfquotenmonitoring; Stand: 28.04.2025; https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Impfen/Impfquoten/KV-Impfsurveillance/Impfquoten_2024_Begleitfolien.pdf

Dr. Anja Lütke

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