Die Diskussion ist entbrannt: Influenza-Impfung für alle Kinder?
Deutschland wird von einer Infektionswelle überrollt. Das hat die Diskussion auf den Plan gerufen, ob alle Kinder gegen Influenza geimpft werden sollten, um die bevorstehende Grippewelle einzudämmen. Dafür gibt es Pro und Kontra.

Experten und Expertinnen sind sich uneins. Der Berufsverband des Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) hat zu Beginn der Influenzasaison eine Grippeimpfung für alle Kinder empfohlen. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die Influenzaimpfung dagegen bisher nur für Kinder mit Risikofaktoren. „Das ist aus unserer Sicht falsch“, sagte BVKJ-Präsident Michael Hubmann gegenüber der Funke-Mediengruppe. Und er argumentiert: Auch gesunde Kinder seien sehr häufig Überträger der Viren. Es müsse daher die Ausbreitung des Virus durch Impfung verhindert und damit die Krankheitslast für alle reduziert werden. Hubmann rechnet in diesem Winter mit einer „starken Grippewelle“. Und er ist nicht allein. Bereits im Herbst hatten sich Fachleute dafür ausgesprochen, die Impfempfehlungen der STIKO großzügig auszulegen. Die wiederum verweist in ihrem aktuellen Wochenbericht darauf, dass derzeit vornehmlich Kinder im Schulalter und junge Erwachsene von der Grippe betroffen seien.
Laut Definition des Robert Koch-Instituts fiel der Startschuss für die Grippewelle in Deutschland mit der 50sten Kalenderwoche 2023. In den beiden Wochen zwischen dem 18. und 31. Dezember 2023 wurden dem Institut knapp 9.000 Fälle übermittelt – insgesamt rund 16.600 Kinder und junge Erwachsene seit Oktober.
Als Ursache für diese Entwicklung wird einmal mehr die Pandemie bemüht. Dass es bei den saisonalen Krankheitswellen nun verstärkt Kinder trifft, könnte auf die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Weil insbesondere Heranwachsende durch Lockdowns nicht wie sonst üblich in den Wintermonaten mit allerlei Erregern konfrontiert wurden, ist es bei ihnen möglicherweise zu einer „Immunitätslücke“ gekommen. Die zuletzt erhöhten Infektionszahlen deuten Fachleute daher als eine Art Nachholeffekt. Und sie ziehen ihre Konsequenzen.
Laut Prof. Dr. Folke Brinkmann, Leiterin der Sektion Pädiatrische Pneumologie, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, sollte man in diesem Jahr Kinder (und natürlich auch Erwachsene) großzügig impfen. „Der individuelle und gesellschaftliche Nutzen ist vermutlich in dieser Saison höher als in vorherigen Jahren. Ob das für eine STIKO-Empfehlung ausreicht, ist immer schwer zu beurteilen. Ein weiterer Aspekt ist in Zeiten des Pflegenotstandes und (Kinder-)Ärztemangels auch ein möglicher Engpass bei den medizinischen Versorgungsmöglichkeiten bei großen Krankheitswellen. Dies hat die vorjährige RSV-Saison ja gut gezeigt – und es hat sich seitdem nicht relevant etwas in den Kinderkliniken und Kinderarztpraxen verändert.“ Auch Prof. Dr. Fred Zepp, ehemaliger Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin sowie Leiter der Arbeitsgruppe Immunologie & Infektiologie, Universitätsmedizin Mainz, und Mitglied der STIKO, sieht Nachholeffekte bei Atemwegserregern als Folge der Lockdowns: „Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen in der COVID-19-Pandemie sind auch nur wenige Infektionen mit anderen Atemwegserregern wie Influenza oder RSV aufgetreten. Dementsprechend sind in der vergangenen Saison und auch wahrscheinlich in der jetzt laufenden Saison vermehrt Infektionen durch diese Erreger zu erwarten, es handelt sich gewissermaßen um einen Nachholeffekt.“