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Die Heraus­forderun­gen der Universitäts­medizin beim Gesundheits­daten­manage­ment

  • Freitag, 17. November 2023
  • Quelle: Data Saves Lives Deutschland/PD Dr. Benjamin Friedrich

In einem Universitätsklinikum werden viele Gesundheitsdaten erhoben und die Schnittstelle zur Forschung ist an diesen Institutionen näher als in jeder Praxis. Welche Herausforderungen es in der Universitätsmedizin beim Thema Management von Gesundheitsdaten gibt, erläutert PD Dr. med. Benjamin Friedrich, Co-Founder & Chief Medical Officer, Temedica und Beiratsmitglied von Data Saves Lives Deutschland, aus eigener Erfahrung.

/ipopba, stock.adobe.com
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Während meiner 10 Jahre in der Universitätsmedizin wurden mir die immensen Schwachstellen und Begrenzungen unseres Gesundheitsdatensystems immer deutlicher. Die Medizin, so komplex und vielseitig, sollte eigentlich an der Spitze technologischer Innovationen stehen. Doch seltsamerweise schien es, als wäre die Technologie, die im Alltag verwendet wurde, in einer längst vergangenen Ära stecken geblieben.

Von altmodischen Papierakten bis hin zu inkonsistenten Datenbanken waren die Herausforderungen, zeitnah kritische Patient:inneninformationen zu erhalten, oft entmutigend. Es war nicht unüblich, dass wertvolle Zeit mit der Suche nach Informationen verbracht wurde, anstatt sich auf die direkte Patient:innenversorgung zu konzentrieren. Die Barrieren, auf die ich stieß, beschränkten sich nicht nur auf administrative Aufgaben. Sie wirkten sich auch auf die Qualität der medizinischen Versorgung aus, die ich bieten konnte, indem sie den Zugriff auf wichtige Daten verlangsamten oder sogar blockierten.

Als Universitätsmediziner wurde ich Zeuge von Fällen, in denen fehlende oder verzögert zur Verfügung gestellte Daten die Diagnose und Behandlung von Patientinnen und Patienten beeinträchtigten. Die Konsequenzen solcher Verzögerungen können in einigen Fällen das Leben der Patientinnen und Patienten nachhaltig zum Negativen verändern. Diese Erfahrungen festigten meine Überzeugung, dass die Medizin einen effizienteren Ansatz zur Datenverwaltung und -nutzung benötigt. Aus diesem Grund habe ich mich damals entschlossen, die praktizierende Medizin zu verlassen und mein eigenes Unternehmen zu gründen.

Real World Evidence (RWE): Die Evolution der klinischen Forschung

In der Medizin sind heutzutage randomisierte, kontrollierte Studien (RCTs) zweifellos der Goldstandard – also das Maß aller Dinge. Sie bieten präzise, gut kontrollierte Daten, die uns helfen, die Sicherheit und Wirksamkeit neuer Therapien zu bestimmen. Doch selbst dieser Goldstandard hat seine Grenzen. RCTs sind oft kostspielig und zeitaufwendig. Noch wichtiger ist, dass klinische Studien sehr häufig nur einen bestimmten Teil der betroffenen Patientinnen und Patienten einschließen. Somit sind die Aussagen von RCTs zwar wissenschaftlich ungemein wertvoll, lassen sich aber nicht uneingeschränkt auf alle Patientinnen und Patienten übertragen.

Hier kommt das Konzept der Real World Evidence (RWE) ins Spiel, das darauf abzielt, Daten aus dem tatsächlichen klinischen Alltag zu sammeln. RWE hat das Potenzial, die Begrenzungen von RCTs zu überwinden. Sie ermöglicht uns, tiefere Einblicke in die tatsächliche Performance von Therapieansätzen in einer breiteren Population zu gewinnen. Während RCTs eine kontrollierte Umgebung bieten, spiegelt RWE die Realität wider – wie Therapien in der Praxis tatsächlich funktionieren.

Die Bedeutung von RWE erstreckt sich über die klinische Praxis hinaus. Sie beeinflusst die Art und Weise, wie Medikamente entwickelt, reguliert und verwaltet werden. Regulierungsbehörden erkennen zunehmend den Wert von RWE bei der Ergänzung traditioneller Forschungsdaten. Medikamente können schneller auf den Markt kommen, wenn RWE die Sicherheit und Wirksamkeit bestätigt. Dies beschleunigt nicht nur die Verfügbarkeit neuer Therapien, sondern ermöglicht es auch, diese Therapien genauer auf die individuellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten abzustimmen.

Als Arzt habe ich aus erster Hand gesehen, wie RWE das Potenzial hat, die Versorgung zu transformieren. Sie gibt uns die Möglichkeit, fundierte Entscheidungen zu treffen, die auf den realen Erfahrungen der Patientinnen und Patienten basieren. Die Evolution der klinischen Forschung hin zu RWE markiert einen wichtigen Schritt vorwärts in Richtung einer präziseren, patient:innenzentrierten Medizin.

Diese Erweiterung unseres Verständnisses von klinischer Forschung wäre ohne den Fortschritt in der elektronischen Datenverwaltung und -analyse nicht möglich. Und hier kommen unter anderem die elektronischen Patientenakten (EPAs) ins Spiel, die nicht nur als Mittel dienen, um den klinischen Arbeitsfluss zu digitalisieren. EPAs haben das Potenzial, die medizinische Forschung zu revolutionieren, indem sie als wertvolle Datenquelle dienen.

EPAs erfassen nicht nur Diagnosen und Medikamentenverordnungen, sondern auch Labortests und Bildgebungsdaten. Diese umfassende Daten bilden die Grundlage für ein lebendiges Datenreservoir, das die Möglichkeiten von RWE erheblich erweitert. Durch die Analyse der in EPA gesammelten Daten können wir Muster und Trends in der Krankheitsentwicklung und -behandlung erkennen. Ein Blick auf den Gesamtverlauf einer Patientin oder eines Patienten – von der Diagnose bis zur Behandlung und darüber hinaus – ermöglicht es uns, personalisierte Therapieansätze zu entwickeln, die auf den individuellen Bedürfnissen jeder Patientin und jedes Patienten basieren.

Die Kombination von RWE und EPAs eröffnet eine aufregende neue Ära in der medizinischen Forschung und Praxis. Wir können nun tiefergehende Einsichten gewinnen, die es uns ermöglichen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und effektivere Behandlungsoptionen anzubieten. Indem wir den Schatz an Daten, den wir durch EPAs gewonnen haben, nutzen, können wir die Realität der Patientinnen und Patienten besser verstehen und somit eine Patient:innenversorgung bieten, die präziser, individueller und effektiver ist. Stichwort: personalisierte Medizin.

Die Revolution durch Gesundheits-Apps

Während wir uns in der medizinischen Forschung weiterentwickeln, werden auch die Werkzeuge für Patientinnen und Patienten immer mächtiger. Der nächste logische Schritt in der Digitalisierung des Gesundheitswesens sind Gesundheits-Apps. Diese Apps, oft von Patientinnen und Patienten selbst genutzt, ermöglichen eine beispiellose Sammlung von Gesundheitsdaten in Echtzeit. Blutzuckermessungen, Herzfrequenz, Aktivitätsdaten und persönliche Erfahrungen, sogenannte Patient Reported Outcomes (PRO), können nun direkt von den Patientinnen und Patienten erfasst und an das medizinische Team weitergeleitet werden. Dies schafft eine engere Verbindung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin und ermöglicht es dem Arzt/der Ärztin, potenzielle gesundheitliche Probleme frühzeitig zu erkennen und proaktiv darauf zu reagieren.

Die nahtlose Integration von Gesundheits-Apps in die medizinische Praxis ermöglicht nicht nur eine bessere Überwachung der Gesundheit der Patientinnen und Patienten, sondern öffnet auch die Tür zu neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten. Indem wir die von den Apps erfassten Daten in Kombination mit den Informationen aus EPAs und RWE nutzen, können wir ein umfassendes Bild der Gesundheit einer Patientin/eines Patienten zeichnen. Dies ermöglicht es uns, maßgeschneiderte Behandlungspläne zu erstellen, die die individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände jeder Patientin/jedes Patienten berücksichtigen. Die Kombination dieser Fortschritte verspricht eine aufregende Zukunft für die medizinische Versorgung – eine Zukunft, in der Daten den Weg weisen und die Versorgung präziser, zugänglicher und effektiver wird.

Ein abschließender Gedanke

Die Zukunft der Medizin liegt zweifellos in der effektiven Nutzung von Daten. Diese Erkenntnis ist in meiner Zeit in der Universitätsmedizin und den letzten Jahren als Mitgründer und Chief Medical Officer von Temedica weiter gereift. Während ich mit den Schwierigkeiten und Chancen unseres Gesundheitsdatensystems konfrontiert wurde, wurde mir klar, dass das Sammeln, Analysieren und Anwenden dieser Daten der Schlüssel zu einer wirklich fortschrittlichen Patient:innenversorgung ist.

Durch den klugen Einsatz fortschrittlicher Technologien, die Real-World Evidence (RWE), elektronische Patientenakten (EPAs) und Gesundheits-Apps miteinander verbinden, können wir endlich das Versprechen der personalisierten Medizin einlösen. Diese Fortschritte sind keine bloßen Schlagworte, sondern realistische Chancen, die Art und Weise, wie wir Patientinnen und Patienten versorgen, grundlegend zu verändern.

Die nahtlose Verbindung von RWE, welche uns reale Einblicke in Therapieeffekte liefert, EPAs, die einen umfassenden Überblick über die Patient:innengeschichte bieten, und Gesundheits-Apps, die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt ihrer Gesundheit stellen, kann eine erstaunliche Versorgungsumgebung schaffen. Eine Umgebung, in der wir nicht nur auf Studienergebnisse angewiesen sind, sondern auf reale, alltägliche Daten, um medizinische Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir diese Technologien intelligent nutzen, können wir nicht nur präzisere Diagnosen und maßgeschneiderte Behandlungen anbieten, sondern auch die Art und Weise, wie Medizin praktiziert wird, revolutionieren. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten zu erkennen und die Art und Weise, wie wir Gesundheit verstehen und behandeln, zu verändern.

Der Weg mag komplex erscheinen, aber er ist von entscheidender Bedeutung. Die Vision einer patient:innenzentrierten, datengesteuerten Medizin ist greifbarer als je zuvor. Während meiner Reise von der Universitätsmedizin zur Gründung eines eigenen Digital Health Unternehmens wurde mir klar, dass der Schlüssel zu einer besseren Gesundheitsversorgung darin liegt, die Brücke zwischen Daten, Technologie und medizinischer Praxis zu schlagen. So können wir eine Welt schaffen, in der jede Patientin und jeder Patient die bestmögliche und individuell angepasste Versorgung erhält.

DSL Porträt Friedrich
Als Facharzt für Neuroradiologie und als Forscher seit über einem Jahrzehnt hat PD Dr. med. Benjamin Friedrich sich als Mitgründer und Chief Medical Officer von Temedica entschieden, den nächsten Schritt in die Welt der digitalen Gesundheit zu machen, um aktiv die Richtung der Zukunft des Gesundheitswesens zu gestalten. ©

mr

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