Digital. Gesund. Uninformiert? – Warum systemischer Wandel im Gesundheitswesen mehr Aufmerksamkeit verdient
Mit diesem Titel habe ich kürzlich einen Impulsvortrag gehalten – vor Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Gesellschaft, Verwaltung, Pflege, Medizin, Wirtschaft, Start-ups und Organisationen. Einige waren Expertinnen und Experten, andere einfach interessierte Menschen. Das Gespräch war lebendig – und es hat eines sehr deutlich gemacht: Der strukturelle Wandel im Gesundheitswesen ist im Gange, aber er wird von vielen kaum also solcher erkannt, denn er passiert oft leise, ohne einen Laut oder eine Information für viele Bürgerinnen und Bürger.

Daher wird nicht immer verstanden, warum dieser Wandel nicht nur technisch, sondern kulturell und systemisch relevant ist. Es geht um mehr als um Technik: Es geht um Rollen, Erwartungen, Beteiligung – und letztlich um die Frage, wie wir als Gesellschaft Gesundheit gestalten wollen. Dabei stellt sich auch die Frage, ob unser System ausreichend darauf vorbereitet ist – ob es lernfähig, inklusiv, vorausdenkend agieren kann.
Digitalisierung ist Realität – doch noch keine Routine
Im Prinzip sind wir alle digital. Viele mehr oder weniger unbewusst. Wir agieren mit KI im Smart Home, im Auto und im Smartphone. Genauso sind die elektronische Patientenakte, Gesundheits-Apps, Videosprechstunden, Online-Terminportale oder KI in der Diagnostik bereits Teil des Gesundheitssystems. Doch nur weil es existiert, heißt das nicht, dass es verstanden oder sinnvoll genutzt wird. Doch klar ist auch: Technische Lösungen entfalten ihre Wirkung erst dann, wenn Menschen sie einordnen können – und sich darin wiederfinden. Genau hier zeigt sich ein systemisches Defizit: Der Wandel wird nicht begleitet, sondern vorausgesetzt.
Gesundheitskompetenz als Schlüssel – aktuelle Daten geben Anlass zur Sorge
Die im März 2025 veröffentlichte Studie der Technischen Universität München (TUM) [1] macht deutlich: Nur rund 36 % der Menschen in Deutschland können Gesundheitsinformationen angemessen einschätzen und anwenden. Besonders betroffen: Ältere Menschen, Menschen mit niedrigem Einkommen oder Bildungsstand – also große Teile der Bevölkerung.
Auch wir von Data Saves Lives Deutschland (DSL DE), haben diesen Eindruck durch eigene Recherchen, Interviews und Rückmeldungen aus der Community bestätigt. Die häufigsten Reaktionen: Unsicherheit, Überforderung, Misstrauen – besonders in Bezug auf Datenschutz, digitale Angebote und Transparenz.
Diese Beobachtungen verweisen auf einen blinden Fleck im Diskurs: Der kulturelle Wandel, der mit Digitalisierung einhergeht, wird unterschätzt. Dabei ist er entscheidend für die Akzeptanz und für die langfristige Wirksamkeit von Innovationen, sowie einen nachhaltigen Umbau des derzeitigen Gesundheitswesens. Denn klar ist: So geht es nicht weiter.
Patient:innen sind nicht nur Zielgruppe – sondern Mitgestalter:innen mit Erfahrung
Während der Diskussion kam auch ein Satz auf, den man oft hört, der aber nicht richtig ist: „Mal ist man Patient:in, mal nicht.“ – Er ist zu kurz gedacht, denn viele Menschen leben mit einer chronischen oder komplexen Erkrankung. Sie sind dauerhaft mit dem Gesundheitssystem konfrontiert und damit nicht mal Patient und mal nicht. Sie sind es dauerhaft. Ihre Perspektive ist geprägt durch kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Strukturen und den damit verbundenen Herausforderungen oder zu treffenden Entscheidungen.
Diese Perspektiven sind keine Einzelfälle, sie sind strukturell relevant – und sie bringen Wissen mit, das bislang zu selten systematisch einbezogen wird.
Drei Prinzipien – und warum sie für ein zukunftsfähiges System zentral sind
DSL DE arbeitet seit einer Weile auf Grundlage von drei übergreifenden Prinzipien: Information – Kommunikation – Partizipation.
Ohne verständliche Informationen können Entscheidungen nicht informierter getroffen werden.
Ohne offene Kommunikation entsteht Misstrauen.
Ohne Partizipation bleiben relevante Perspektiven außen vor.
Diese Prinzipien finden sich auch in unseren Handlungsempfehlungen wieder, die wir in unserem neuen Magazin, dem DSL DE Kompass im April erstmalig vorgestellt haben.
Gesundheitsinformationen niedrigschwellig und kontextualisiert anbieten
Informationen müssen auffindbar, verständlich, alltagstauglich und barrierefrei formuliert sein.Beteiligung ernsthaft und strukturiert ermöglichen
Ein Beispiel: Patientenbeiräte, bestehend aus unabhängigen und aktiven Patientenvertreterinnen und Patientenvertretern und Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Patientenorganisationen sowie Bürgerinnen und Bürgern, die in der Entwicklung digitaler Anwendungen oder neuer Wege im Gesundheitswesen eingebunden werden – als gehörte Stimme, nicht als Feigenblatt.Vertrauen systematisch aufbauen
Transparente Kommunikation zu Datenflüssen, Entscheidungsgrundlagen und Verantwortlichkeiten stärkt nicht nur die Akzeptanz, sondern auch die Resilienz des Systems, es öffnet Türen und stellt sicher, dass eine gemeinsame Basis entsteht, die nötig ist, um Neues zu etablieren.
Europäische Beispiele zeigen, dass es geht
Dänemark arbeitet im Projekt Lighthouse Life Science mit Bürger:innen, Patient:innen, Forschung, Versorgung und Wirtschaft zusammen – in einem offenen, kollaborativen Prozess. Ergebnis: höhere Akzeptanz, bessere Datenqualität, schnellere Umsetzung.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) bindet Patient:innen und Bürger:innen in öffentliche Konsultationen ein. Interessierte werden aktiv eingeladen, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen – ein Ansatz, der Legitimation stärkt.
Diese Modelle sind keine Utopien. Sie zeigen, wie Beteiligung konkret aussehen kann – auch im datengetriebenen Gesundheitsbereich. Einzige Lücke: Kommunikation, sie muss breiter und sichtbarer werden, damit mehr Menschen, damit sind Menschen mit Erkrankungen und Bürger gemeint, erreicht und damit auch mehr Daten und Informationen über die "Denke" der Bürgerschaft bekannt sind.
Es geht um mehr als Technik
Der kulturelle Wandel im Gesundheitswesen ist längst im Gange. Doch damit er gelingt, braucht es mehr als Technik, Struktur und Finanzierung. Es braucht Haltung in Form von Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven, wir müssen Räume für Beteiligung schaffen, die mehr als nur Symbolik sind und wir benötigen Kommunikation auf Augenhöhe. Es ist eine Frage der Offenheit, der Haltung gegenüber anderen, der Lernbereitschaft von allen und auch der Bereitschaft aktiv mitzugestalten – und zwar von allen Seiten.
Gesundheit ist kein Solo. Sie ist ein Zusammenspiel – von Menschen, Systemen, Lebenswelten und der Umwelt. Wir sollten dieses Zusammenspiel ermöglichen.
Mit allen – gemeinsam. Digital. Gesund. Informiert.
Den DSL DE Kompass erhalten Sie kostenfrei als Download auf unserer Website: www.datasaveslives.de
Über die Autorin:
Birgit Bauer ist Expertin für Digitalisierung und Gesundheitsdaten. Sie lebt selbst als Mensch mit chronischer Erkrankung und ist Patient Expert. Sie hat Data Saves Lives Deutschland 2022 in Deutschland eröffnet und ist als Projektkoordinatorin mit DSL DE national aber auch international engagiert.
Literatur