HIV-Heilung auch ohne seltene Genmutation – rückt die Reservoir-Eliminierung in den Fokus?
Der Fall eines Berliner Patienten mit allogener Stammzelltransplantation (SZT) zeigt erstmals eindeutig, dass eine dauerhafte HIV-Remission auch mit funktionsfähigen CCR5-Rezeptoren (= „Eintrittspforten“ für HI-Viren) möglich ist. Entscheidend war offenbar die konsequente Beseitigung des Virusreservoirs nach der SZT – ein Befund, der den Fokus künftiger kurativer Strategien neu ausrichten könnte.

Ein bislang einzigartiger Fall an der Charité
Erneut konnte an der Charité – Universitätsmedizin Berlin – ein Patient von HIV geheilt werden. Was diesen Fall besonders bemerkenswert macht, ist nicht allein die siebte dokumentierte Langzeitremission weltweit, sondern das vertiefte Verständnis dahinter: Warum gelang es den HI-Viren nicht, die durch eine Stammzelltransplantation gespendeten Zellen erneut zu infizieren, obwohl diese funktionsfähige CCR5-Rezeptoren trugen?
Der Patient aus Berlin litt an einer akuten myeloischen Leukämie und erhielt daher eine allogene Stammzelltransplantation. Die Konditionierung zerstörte seine eigenen hämatopoetischen Zellen – und damit auch den Großteil des HIV-Reservoirs. Anschließend wurde er mit Stammzellen einer Spenderin behandelt, die heterozygot für die Mutation CCR5Δ32 war. Die daraus entstehenden Immunzellen exprimieren funktionsfähige CCR5-Rezeptoren, sind also grundsätzlich infizierbar. Dennoch blieb eine Reinfektion aus.
Warum der neue Fall bisherige Annahmen in Frage stellt
Bislang galten ausschließlich homozygote CCR5Δ32-Spenderzellen als verlässliche Grundlage für eine potenzielle Heilung. Die Mutation verhindert, dass HIV über den CCR5-Rezeptor in Leukozyten eindringen kann. Bei allen bisherigen bekannten Fällen stammte die Resistenz gegen HIV von dieser genetischen Besonderheit der Spenderzellen.
Der jetzt vorgestellte Fall zeigt jedoch eindrücklich, dass CCR5-Unempfindlichkeit nicht zwingende Voraussetzung für eine dauerhafte Remission ist. Weltweit sind bisher sechs Patienten mithilfe einer Stammzelltransplantation virusfrei geworden – stets mit homozygotem CCR5Δ32-Profil der Spender. Die Charité-Forschenden berichten nun erstmals eine stabile, therapiefreie Remission bei einem Patienten ohne vollständige CCR5-Resistenz.
Sechs Jahre nach Absetzen der antiretroviralen Therapie bleibt der Patient virusfrei. Virologische Untersuchungen konnten kein replizierbares Virus mehr nachweisen, weder im Blut noch im Darmgewebe. Gleichzeitig nahmen HIV-spezifische Antikörper und T-Zell-Antworten deutlich ab – ein immunologisches Zeichen fehlender Virusaktivität.
Mögliche Mechanismen der Remission
Warum die HI-Viren bei diesem Patienten trotz vorhandener CCR5-Rezeptoren keine neue Infektion etablieren konnten, ist Gegenstand intensiver Forschung. Das Team um Prof. Dr. Christian Gaebler verweist auf mehrere mögliche Faktoren:
Zum einen könnte die Geschwindigkeit, mit der das neue Immunsystem das alte verdrängt hat, von Bedeutung sein. Zum anderen wiesen die Forschenden auf eine auffällige Besonderheit hin: Der Patient hatte zum Zeitpunkt der Transplantation eine besonders starke antikörperabhängige zellvermittelte Zytotoxizität (ADCC). Diese Immunreaktion kann infizierte Zellen markieren und deren gezielte Eliminierung unterstützen. In Kombination mit der tiefgreifenden Immunrekonstitution nach der Transplantation könnte dies zur weitgehenden Auslöschung des Reservoirs beigetragen haben.
Die Daten deuten damit auf einen Paradigmenwechsel hin: Nicht primär die genetische Resistenz der Spenderzellen, sondern die effektive Reduktion und immunologische Kontrolle des HIV-Reservoirs könnten zentrale Determinanten einer Heilung sein.
Kein therapeutischer Ansatz für alle – aber ein entscheidendes Erkenntnisfenster
Trotz der wegweisenden Erkenntnisse bleibt klar, dass eine allogene Stammzelltransplantation keine Option zur Behandlung von HIV ohne onkologische Indikation ist. Die Risiken – Organversagen, Infektionen, Graft-versus-Host-Reaktion – sind erheblich und rechtfertigen den Eingriff nur bei lebensbedrohlichen hämatologischen Erkrankungen.
Der Fall eröffnet dennoch neue Perspektiven: Er zeigt, dass HIV-Remission selbst dann möglich ist, wenn die Virusandockstelle CCR5 weiterhin vorhanden ist. Damit erweitert sich der Blick auf zukünftige Therapieansätze.
Fazit: Ein möglicher Schritt in Richtung funktionelle Heilung
Der zweite Berliner Patient legt nahe, dass eine funktionelle HIV-Heilung kein extrem seltenes genetisches Zufallsprodukt sein muss. Vielmehr könnte sie aus dem Zusammenspiel einer tiefgreifenden Immunrekonstitution, der effektiven Ausschaltung des HIV-Reservoirs und gezielter immunologischer Mechanismen entstehen – selbst wenn CCR5 weiterhin vorhanden ist.
Damit rückt möglicherweise ein lange als unerreichbar geltendes Ziel etwas näher: eine Therapie, die nicht nur kontrolliert, sondern heilt – und die eines Tages für mehr Menschen mit HIV realistisch werden könnte.
Quelle (Originalpublikation): Gaebler C et al.: Sustained HIV-1 remission after heterozygous CCR5Δ32 stem cell transplantation. Nature 2025; https://www.nature.com/articles/s41586-025-09893-0 (online ahead of print).