Jeden Patientenkontakt nutzen, um Impflücken zu schließen
An welche Patientinnen und Patienten sollte man in der Praxis zuerst denken, wenn es ums Impfen geht? Diese Frage stellte Prof. Dr. med. Jörg Schelling den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Online-Symposiums des Deutschen Ärzteverlages am 14. Juni 2023 zu dem Thema „2023 – JEDE IMPFUNG ZÄHLT! IMPFLÜCKEN BEI STANDARD- UND INDIKATIONSIMPFUNGEN SCHLIESSEN“ zu Beginn seines Vortrags in einer Online-Umfrage. Die große Mehrheit gab die Antwort, dass das Impfen ein wichtiges Thema für alle Patientinnen und Patienten ist, also nicht nur für Ältere, Schwangere, Reisende oder Kinder. Ganz besonders aber müsse man Patientinnen und Patienten mit Grunderkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Niereninsuffizienz, Diabetes oder Krebs und ganz allgemein ältere Menschen im Blick behalten.

Zu Beginn seines Statements skizzierte Schelling kurz die wichtigsten Punkte der von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlenen Standard- und Indikationsimpfungen. Jede Patientin und jeder Patient mit oder ohne Vorerkrankungen sollte standardmäßig alle 10 Jahre eine Auffrischimpfung gegen Tetanus/Diphtherie und Pertussis erhalten. Dazu kommen bei allen Patienten ab 60 Jahren eine jährliche Grippeschutzimpfung mit dem tetravalenten hochdosierten Impfstoff, eine Impfung gegen Herpes zoster (zweimal im Abstand von 2–6 Monaten) und gegen Pneumokokken. Patienten mit Grunderkrankungen sollten schon ab 50 Jahren gegen Herpes zoster geimpft werden.
Auch an FSME denken
Für die Pneumokokkenimpfung kommt standardmäßig der Polysaccharidimpfstoff zum Einsatz. Patientinnen und Patienten mit Immunsuppression sollten eine sequenzielle Impfung erhalten, d.h. zunächst einen Konjugatimpfstoff und mindestes 8–12 Wochen, besser 6–12 Monate später einen Polysaccharidimpfstoff. Vor wenigen Tagen sei der erste RSV-Impfstoff in Europa zugelassen worden. Für Schelling ist es nur eine Frage der Zeit, dass eine RSV-Impfung Eingang in die STIKO-Empfehlungen finden wird.
Wichtig sei insbesondere für Risikopatientinnen und Risikopatienten eine FSME-Impfung. Die Frühsommer-Meningo-Enzephalitis (FSME) verläuft zwar generell meist asymptomatisch. Bei vorgeschädigten und immunsupprimierten Patientinnen und Patienten beobachtet man jedoch vermehrt schwere Verläufe, so Schelling. Einen Impfschutz vor dieser Erkrankung benötigen heute nicht nur Menschen, die in Süddeutschland leben, arbeiten oder Urlaub machen: Auch in Nord- und Ostdeutschland kann man sich die Erkrankung heute beim Biss einer befallenen Zecke zuziehen.
Wenig Schutz ist besser als keiner
Grundsätzlich gebe es kein Medikament und keine Dosis eines Medikaments, die eine Totimpfung ausschließen würden, unterstrich Schelling. Dies gelte für Corticosteroide genauso wie für Arzneimittel, die in der Onkologie oder Rheumatologie verwendet werden. Auch wenn man beispielsweise bei einer Patientin oder einem Patienten mit einer immunsupprimierenden Begleiterkrankung durch die Pneumokokkenimpfung nur einen 10 %-igen Schutz vor einer Pneumokokkensepsis erreichen würde, sei das besser als gar keiner. Auf einen besseren Zeitpunkt für die Impfung zu warten, könne ins Auge gehen.
Auch eine Schwangerschaft sei kein Grund, so zitiert Schelling die STIKO, zurückhaltend mit Impfungen zu sein, im Gegenteil. Totimpfstoffe sind immer anwendbar; eine Influenza-Impfung sollte in jeder Schwangerschaft durchgeführt werden. Jede schwangere Frau sollte gegen Ende jeder Gravidität auch gegen Pertussis geimpft werden, damit sie ausreichend maternale Antikörper auf das Kind übertragen kann. Da es keinen Pertussis-Monoimpfstoff gibt, muss dies mit einer Impfung gegen Diphtherie und Tetanus kombiniert werden.
Influenzaviren attackieren Herz und Gefäße

Die COVID-19-Pandemie hat uns eindrücklich vor Augen geführt, dass das SARS-CoV-2-Virus nicht nur die Lunge, sondern auch andere Organsysteme schädigt, insbesondere das Herz-Kreislauf-System. Dies trifft für das Influenza-Virus nicht weniger zu. Beide Viren haben ähnliche indirekte und direkte Effekte im Herz-Kreislauf-System, so Schelling. Eine bestehende kardiovaskuläre Erkrankung kann exazerbieren, z.B. weil es aufgrund der systemischen Immunantwort und Entzündung zu einer Plaqueruptur kommt. Herzinfarkt oder Schlaganfall sind die unmittelbaren Folgen davon.
Direkt kann das Virus auch eine Myoperikarditis oder Myokarditis auslösen, die der Entwicklung einer chronischen Herzinsuffizienz Vorschub leistet. Ähnliche Auswirkungen zeigen sich auf eine COPD oder eine Niereninsuffizienz. Hier begünstigt die systemische Entzündung im einen Fall das Auftreten akuter Exazerbationen und im anderen Fall eine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion.
Wirksame Infarktprävention
Die Impfung gegen Influenza schützt deshalb nicht nur vor der Infektion selbst, sondern auch davor, dass sich internistische Grunderkrankungen verschlechtern oder neue Probleme auftreten, betonte Schelling. Für die Prävention des Herzinfarkts besitzt die Influenza-Impfung eine Bedeutung, die vielfach unterschätzt wird. Nach einer australischen Studie senkt eine regelmäßige Influenza-Impfung das Herzinfarkt-Risiko in ähnlichem Ausmaß wie Rauchstopp, Statine oder Antihypertensiva (Tab. 1)1.
Tipps zum Impfmanagement
Um das Impfen in der Praxis voranzubringen, sollte jeder Kontakt mit einer Patientin oder einem Patienten genutzt werden, um dessen Impfstatus zu prüfen. Und wenn dabei Lücken auffallen, sollte man möglichst viele davon gleichzeitig schließen. Bei älteren Patienten, die im Herbst zur Grippeimpfung kommen, könne man auch den COVID-19-Schutz auffrischen. Auch gegen Herpes zoster und Pneumokokken kann simultan geimpft werden. Entsprechendes gilt für die Impfung gegen Influenza und Tetanus/Diphtherie/Pertussis. Ob man 2 verschiedene Impfstoffe in denselben Arm spritzt oder für jede Vakzine einen anderen Arm wählt, sollte man vom Wunsch des Patienten abhängig machen.
Schelling riet auch dringlich dazu, ein elektronisches Impfmanagementsystem zu verwenden. Dieses hilft, fällige Impfungen nicht zu übersehen, und unterstützt bei differenzierten individuellen Impfentscheidungen. Patientinnen und Patienten, die unsicher sind, ob sie sich impfen lassen sollen, kann man oft damit überzeugen, dass man ihnen sagt, dass jede Krankheit um ein Vielfaches schlimmer ist als die Impfung dagegen. Und den Impfschutz, den die Ärztin der der Arzt seiner eigenen Familie angedeihen lässt, sollten sie oder er auch für ihre bzw. seine Patientinnen und Patienten vorsehen.
Literatur
1MacIntyre CR et al.: Heart 2016; 102: 1953–1956
Intervention | Wirksamkeit |
Tabakentwöhnung | 3243 % |
Statine | 1930 % |
Blutdrucksenkende Arzneimittel | 1725 % |
Influenza-Impfung | 1545 % |