Polioviren im Abwasser: Kommt die Kinderlähmung zurück?
In nahezu allen größeren deutschen Städten – von München über Köln nach Berlin und Hamburg – werden seit Ende vergangenen Jahres cVDPV2 (Schluckimpfstoff-abgeleitete Polioviren 2) im Abwasser nachgewiesen. Die STIKO hat reagiert und empfiehlt, den Impfstatus von Kindern und von Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, zu prüfen und versäumte Impfungen baldmöglichst nachzuholen.

In dem als Frühwarnsystem eingesetzten Abwassermonitoring hat das Robert Koch-Institut (RKI) erstmals das Schluckimpfstoff-abgeleitete Poliovirus in Deutschland nachgewiesen. Die erste positive Probe von cVDPV2 im Abwasser stammt aus der Kalenderwoche 44/2024 (Epid Bull 48/2024). Inzwischen ist das infektiöse cVDPV2 (vaccine-derived poliovirus 2) im Abwasser von nahezu allen deutschen Großstädten nachgewiesen, und das bereits über einen Zeitraum von mehr als acht Wochen. Der Nachweis des Erregers im Abwasser bedeutet, dass Menschen vor Ort Polioviren mit dem Stuhl ausscheiden und den Erreger so auf andere Personen übertragen können. Wie es dazu genau kommt, wird diskutiert. So könnte es sich um Einträge von cVDPV2 handeln. Aber auch eine lokale Transmission wird nicht ausgeschlossen.
Europaweites Problem?
Mit dem Problem steht Deutschland zwar nicht allein da. Die cVDPV2-Zahlen in den benachbarten Staaten sind allerdings eher niedrig. Seit September 2024 wurden cVDPV2 in vier weiteren Ländern Europas gefunden, einmal in Finnland und jeweils zweimal in Spanien und Polen. In UK wurden zwar auch Abwasserproben mehrerer Klärwerke positiv getestet. Zum Vergleich mit Deutschland eignen sie sich aber nur bedingt, denn die einzelnen Standorte werden seltener beprobt. Wie viele Länder in Europa tatsächlich betroffen sind, ist unklar. Seit 2002 ist die Region Europa als Polio-frei zertifiziert. Diese Poliofreiheit muss permanent nachgewiesen werden. Zur Überwachung der Poliosituation kann unter anderem ein ergänzendes Umweltmonitoring wie eben der Virusnachweis im Abwasser herangezogen werde. Abwassertests gelten schon länger als Früherkennungssysteme, die es ermöglichen, zeitig präventive Interventionen im Sinne allgemeiner Gesundheitsmaßnahmen anzustoßen.
Pflicht: melden und impfen
Polio ist, das sollte nicht vergessen werden, eine meldepflichtige Erkrankung und muss bei Verdacht dem Gesundheitsamt gemeldet werden. Konkret heißt es, dass „gemäß § 6 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) der Krankheitsverdacht, die Erkrankung sowie der Tod an Poliomyelitis sowie gemäß § 7 Abs. 1 IfSG der direkte oder indirekte Nachweis von Polioviren, soweit er auf eine akute Infektion hinweist, namentlich gemeldet werden muss“.
Bisher wurden weder in Deutschland noch in anderen betroffenen Ländern Polioverdachtsfälle gemeldet. Aufgrund der immer noch relativ hohen Polioimpfquoten bei Erwachsenen in Deutschland und guter Hygienebedingungen geht man bisher von einer geringen Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von cVDPV2-bedingten Erkrankungen hierzulande unter Erwachsenen aus, die in ihrer Säuglings- und Kinderzeit einen vollständigen Polioimpfschutz erhalten haben.
Allerdings empfiehlt die STIKO, den Impfstatus von Kindern und von Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, wie etwa Geflüchtete oder Asylsuchende, zu prüfen und versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen. Denn die Impfquoten bei Kindern sind inzwischen – sicher als Folge des jahrzehntelangen Polio-freien Intervalls in Deutschland – schlecht. Nach dem ersten Lebensjahr sind laut aktuellen Daten aus dem RKI-Impfquotenmonitoring nur 21 % der Kinder mit einem vollständigen Impfschema geschützt, am Ende des zweiten Lebensjahrs sind es 77 % (Epid Bull 50/2024), in einigen Regionen in Süddeutschland weniger als 50 %. Bei anhaltender Zirkulation des Schluckimpfungs-Poliovirus besteht bei nicht oder unvollständig Geimpften das Risiko vereinzelter Krankheitsfälle.
Inzwischen hat das Thema auch die Politik erreicht. So sagte etwa Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha Ende November 2024 in einer Pressemitteilung des Landratsamts Main-Tauber-Kreis: „Die Nachweise von Polioviren in Abwasserproben sind ein Weckruf für die Bedeutung eines vollständigen Impfschutzes gegen Kinderlähmung. In Baden-Württemberg bestehen teilweise erhebliche Lücken in Bezug auf die Impfung gegen Kinderlähmung. Insofern appelliere ich an alle Bürgerinnen und Bürger, den Impfschutz entsprechend der aktuellen STIKO-Empfehlungen zu überprüfen und bei Bedarf zu vervollständigen.“ Die aktuellen Nachweise von cVDPV2 in Deutschland und Europa erinnern daran, dass bereits Polio-freie Regionen nicht vor einem Wiedereintrag von Polioviren geschützt sind.
Quelle: Robert Koch-Institut: Update zu cVDPV2-Nachweisen im Abwasser, Epid Bull 2025;5:3-4; DOI 10.25646/12988