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Impfnotstand: An den Struktur­grenzen gehen wesent­liche Impf­empfehlun­gen verloren

  • Montag, 12. Juni 2023

Mit dem Vorliegen chronischer Erkrankungen steigt die Wahrscheinlichkeit, bei Infektionen mit Influenza und Co. schwere Verläufe und Komplikationen zu entwickeln. Entlassbriefe im Krankenhaus wie fachärztliche Empfehlungsschreiben könnten als Mittel dienen, zwischen den Schnittstellen Impfempfehlungen für die Patienten zu übermitteln.

/thodonal, stock.adobe.com
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Nach dem Ende der Impfungen im Kindes- und Jugendalter folgen bei gesunden Erwachsenen mehrere Jahrzehnte, in denen lediglich in 10-jährigem Abstand die Tetanusimpfung aufgefrischt und gegebenenfalls die FSME-Impfung durchgeführt und aufgefrischt werden muss.

Die Situation ändert sich jedoch schlagartig, sobald chronische Erkrankungen auftreten, unabhängig davon, wie die Therapie gestaltet wird: Mit Diabetes, chronischen Nieren-, Atemwegs- oder kardiovaskulären Erkrankungen steigt das Risiko, dass bei Infektionen mit Influenza, Pneumokokken oder Herpes Zoster die Verläufe schwerer und Komplikationen häufiger werden. Dadurch kann sich die Grundkrankheit verschlimmern und Rekonvaleszenz länger dauern. So steigt etwa in den Wochen nach einer Infektion mit Influenza oder Pneumokokken das Risiko für einen Herzinfarkt erheblich an. Entsprechende Grunderkrankungen lassen die Gefahr eines ungünstigen Ausgangs erheblich ansteigen.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut empfiehlt daher, dass alle Menschen mit derartigen Grunderkrankungen jährliche Impfungen gegen Influenza und ab 2023 auch gegen SarS-CoV-2 erhalten sollten, und dass die Impfungen gegen Herpes Zoster und Pneumokokken, die bei Gesunden erst ab dem 60. Lebensjahr auf dem Plan stehen, vorgezogen werden. Diese Impfungen sind Kassenleistung.

Doch nur ein Drittel aller Menschen mit einer chronischen Erkrankung ist gegen Influenza geimpft, noch weniger gegen Pneumokokken oder Herpes Zoster (siehe auch Mit Standardimpfungen einem Erkrankungsrisiko zuvorkommen). Eines der Hindernisse für bessere Impfquoten sind Informationsverluste an den Schnittstellen zwischen Klinik und Niederlassung, zwischen haus- und fachärztlicher Betreuung, wie Prof. Dr. med. Jörg Schelling, Martinsried, gegenüber dem Deutschen Ärzteverlag betonte.

Schnittstelle zwischen Krankenhaus und hausärztlicher Betreuung

Wird ein Patient etwa nach der Einstellung eines Diabetes, nach einem kardiovaskulären Ereignis oder mit einer anderen chronischen Erkrankung aus der Klinik entlassen, so wird bisher nur in Einzelfällen im Rahmen des Entlassbriefs auf Impfempfehlungen eingegangen: In einer Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München aus dem Jahr 20181 wurde festgestellt, dass 85% aller Hausärztinnen und Hausärzte einer solchen Empfehlung Folge leisten würden. Sie würde zudem eine wesentliche Hilfe bei möglichen Diskussionen mit den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen darstellen.

Eine systematische Vorgehensweise ist hier jedoch hier aus vielen unterschiedlichen Gründen nicht absehbar. Ein wichtiger Aspekt ist es, dass die Informationen zu den unterschiedlichen Erkrankungen, Therapien und Impfstrategien beim Robert-Koch-Institut und der STIKO zwar vorhanden, aber in vielen unterschiedlichen Quellen abgelegt sind. Bisher hat keine Institution und keine Fachgesellschaft entsprechende systematische Bausteine entwickelt, die bei unterschiedlichen Vorerkrankungen und Therapieregimes im Entlassbrief aus dem Krankenhaus eingesetzt werden könnten.

Schnittstelle zwischen hausärztlicher und fachärztlicher Betreuung

Obwohl Fachärztinnen und Fachärzte die von der STIKO empfohlenen Impfungen bei ihren Patientinnen und Patienten und gegebenenfalls auch bei deren Angehörigen inzwischen bis auf wenige Ausnahmen fast vollständig durchführen und abrechnen dürfen, werden im fachärztlichen Umfeld bis heute kaum Impfungen vorgenommen. Die flächendeckenden Impfkampagnen während der Covid-19-Pandemie haben hier eine große Ausnahme dargestellt, von der die meisten Praxen in der Zwischenzeit wieder abgekommen sind. Die Gründe sind offensichtlich und nachvollziehbar, so Schelling, weil kollegiale Konflikte gefürchtet werden.

Wie auch an der Schnittstelle zwischen Krankenhaus und Hausärztin beziehungsweise Hausarzt ist auch hier eine briefliche Empfehlung denkbar: An die hausärztliche Praxis könnte vom Facharzt beziehungsweise der Fachärztin eine Empfehlung für eine sinnvolle Impfstrategie und für besondere Maßnahmen rund um das Impfen weitergegeben werden. Dies kann zum Beispiel in Form eines Schreibens geschehen, das als (digitaler) Brief an die hausärztliche Praxis gesandt wird. Gleichzeitig kann das Schreiben dem Patienten oder der Patientin ausgehändigt werden mit der Empfehlung, dies der Hausärztin oder dem Hausarzt beim nächsten Besuch vorzulegen.

Sowohl die Entlassbriefe im Krankenhaus als auch die fachärztlichen Empfehlungsschreiben könnten folgende Bausteine beinhalten:

  1. Hinweis auf das Vorliegen einer chronischen Erkrankung, die sich durch eine Infektion mit Influenza, Covid-19, Herpes Zoster oder Pneumokokken verschlimmern könnte.

  2. Hinweis auf das Vorliegen einer chronischen Erkrankung, die den Verlauf von Infektionen mit Influenza, Covid-19, Herpes Zoster oder Pneumokokken verschlimmern, das Risiko für pulmonale, kardiovaskuläre beziehungsweise dermatologische Komplikationen erhöhen könnte.

  3. Hinweis auf das Vorliegen einer die Immunität abschwächenden Erkrankung oder Therapie, die das Risiko für Infektionen und für verlängerte und schwere Erkrankungsverläufe erhöhen kann.

Es könnten dann, unabhängig vom tatsächlichen Impfstatus des Patienten oder der Patientin, der ohne das Vorliegen des Impfpasses nicht zu prüfen ist, Empfehlungen als Einzelmodule eingefügt werden:

  1. Prüfung des Impfstatus zu Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Polio und gegebenenfalls FSME;

  2. Empfehlung zur jährlichen Impfung gegen Influenza und SarS-CoV-2;

  3. Empfehlung einer Impfung gegen Herpes Zoster und Pneumokokken bereits vor dem Erreichen des 60. Lebensjahres;

  4. Bei Patientinnen und Patienten in der Dialyse und bei HIV-Positiven Empfehlungen zur Hepatitis-B-Impfung;

  5. Bei Patientinnen und Patienten mit Immunsuppression Anmerkung zum erhöhten Infektionsrisiko, zur Dringlichkeit eines vollständigen Impfstatus einschließlich Hepatitis B und Empfehlung zur Beachtung der Besonderheiten bei Impfungen mit Lebend- und Totimpfstoffen entsprechend den Publikationen des Robert-Koch-Instituts;

  6. Bei Patientinnen und Patienten mit Immunsuppression Empfehlung zur vollständigen Impfung der Angehörigen und naher Kontaktpersonen;

  7. Bei Patientinnen und Patienten mit immunmodulierender Therapie – CD20-Antikörper, JAK-Inhibitoren, TNF-alpha-Inhibitoren, CAR-T-Zelltherapie und anderen – Empfehlung zur Beachtung der Besonderheiten bei Impfungen mit Lebend- und Totimpfstoffen entsprechend den Publikationen des Robert-Koch-Instituts.

Eine zuverlässige Quelle für derartige als Modul verwendbare Impfempfehlungen in Entlassbriefen aus dem Krankenhaus oder für die interkollegiale Kommunikation in der Niederlassung fehlt derzeit (Stand Mai 2023), so Schelling. Der Aufbau eines solchen Angebots könne dazu beitragen, den Impfschutz bei Patientinnen und Patienten mit Vorerkrankungen zu verbessern und impräventable, schwere Infektionen zu vermeiden.

Literatur

1Salavati-Khouzani PD, Sektorenübergreifende Untersuchung der Anwendbarkeit von Impfempfehlungen in Entlassungsbriefen bei chronisch erkrankten Erwachsenen in Bayern. Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München 2018. Sektorenübergreifende Untersuchung der Anwendbarkeit von Impfempfehlungen in Entlassungsbriefen bei chronisch erkrankten Erwachsenen in Bayern (uni-muenchen.de) , entnommen 08.06.2023.

Dr. Susanna Kramarz

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