Schwere Atemwegsinfekte als Folge der Immunalterung
Das Immunsystem älterer Patientinnen und Patienten kann bekannte Erreger meist erfolgreich abwehren. Bei allen unbekannten Keimen bestehen allerdings erheblich schlechtere Ressourcen der Immunabwehr. Prof. Dr. med. Luka Cicin-Sain, Leiter der Abteilung "Virale Immunologie" am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, erläuterte die Ursachen und wissenschaftlichen Erkenntnisse anlässlich des Symposiums „Jetzt wieder an die Standardimpfungen denken!“ des Deutschen Ärzteverlags.

Zellen, die altern, können nicht mehr flexibel auf neue Reize reagieren und hören auf, sich zu teilen. Dieser Zellzyklusarrest ist ein sinnvoller Mechanismus, da er vor Neoplasien im reproduktionsfähigen Alter schützt und einen Überlebensvorteil bringt. Auf der anderen Seite, so erläuterte Cicin-Sain, werden auch Stammzellen seneszent. Dies stellt unseren Körper vor eine Herausforderung, da Stammzellen essenziell für die Erneuerung anderer Zellen in unseren Körper sind, während ihre Anzahl begrenzt und nicht mehr erneuerbar ist. Im Lauf des Lebens stehen dadurch immer weniger Stammzellen zur Erneuerung von reifen und funktionellen Zellen zur Verfügung: Man wird alt.
Im Immunsystem ist dieser Alterungsprozess besonders ausgeprägt, da reife Leukozyten kurzlebig sind und ständig erneuert werden müssen. Die Stammzellen im Knochenmark und zum Teil im Thymus sorgen für einen Vorrat an Leukozyten; allerdings wird der Prozess der ständigen Erneuerung im Alter träge. Am stärksten von der Alterung betroffen ist die Synthese neuer B- und T-Lymphozyten, Träger der antigenspezifischen adaptiven Immunantwort und des Immungedächtnisses.
Ein großer Pool an naiven Lymphozyten für Infektabwehr notwendig
So entsteht im Alter ein spezifisches Defizit der Immunantwort gegen neue Antigene, weil kaum noch naive Lymphozyten gebildet werden, während das Immungedächtnis, also die Erinnerung an frühere Infektionen und Antigene, nicht betroffen ist.
Wenn also in der zweiten Lebenshälfte ein neuartiger Infektionserreger in den Körper eindringt, ist die Immunabwehr dann auf eine geringere Vielfalt von reaktionsfähigen Lymphozyten angewiesen. Somit sinkt die statistische Wahrscheinlichkeit, dass der Vorrat an naiven Zellen ausreichend viele Klone beinhaltet, die diesen Keim erkennen können. Dadurch werden bei einer Infektion weniger antigenspezifische Zellen angeregt und es dauert länger, bis sie sich ausreichend vermehrt haben, um den eindringenden Erreger auch zu beseitigen.

Das gealterte Immunsystem startet zu spät in die Infektabwehr
Durch diese Verzögerungen startet das gealterte Immunsystem unter Umständen zu spät in die Infektabwehr und der Erreger hat dadurch mehr Zeit, um sich im Körper zu vermehren und zu verbreiten. Das Endergebnis sind schwerbelastende, hartnäckige Infektionen, teilweise mit langer Rekonvaleszenz und mit erheblichen organischen Schäden mit deutlicher Pathologie, weil einerseits mehr Körperzellen durch den Krankheitserreger vernichtet werden, und weil andererseits das Immunsystem auch eine sehr hohe Zahl von Erregern inaktivieren und mehr Zellabraum aus der Infektionsabwehr beseitigen muss. Sekundärinfektionen können sich leichter auf das vorgeschädigte Gewebe aufsetzen, wie etwa bakterielle Lungenentzündungen auf einen viralen Atemwegsinfekt.
Dieselben Probleme treten auch nach Impfungen auf. Im Tiermodell mit jungen und älteren erwachsenen Rhesusaffen wurde am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung bestätigt, dass der Erolg einer Modellimpfung (MVA = Modified Vaccinia Ankara), messbar am Anstieg von CD8-Zellen im Blut (%IFNgamma+) davon abhängig ist, wie hoch der Anteil der naiven CD8-Zellen – gemessen an allen CD8-Zellen – vor der Impfung ist. Ist er niedrig, ist die Immunantwort auf die Impfung schwach (Grafik 3).
Das gleiche Phänomen, so Cicin-Sain, tritt auch bei älteren Menschen auf. Wenn mit fortschreitendem Alter nur noch wenige naive Zellen vorhanden sind, können nicht nur Infektionen, sondern auch Impfstoffe nur eine schwächere Immunantwort auslösen als bei jungen Menschen. Die Infektionsanfälligkeit älterer Menschen gegenüber neuen Infektionen beruht auf derselben physiologischen Grundlage wie die schlechtere Wirksamkeit von Impfstoffen. Beide Situationen sind das Ergebnis eines Mangels naiver Zellen in einem alternden Organismus, was auf den Ausfall der Stammzellfunktion wegen des pleiotropischen Antagonismus der Zellseneszenz zurückzuführen ist.


Ältere Menschen mit stärker wirksamen Impfstoffen immunisieren
Es gibt 3 praktische Überlegungen, die sich laut Cicin-Sain aus dieser Grundlage ableiten: Zum einen ist es klar, dass der Ausfall naiver Zellen und das verbleibende Repertoire an Antigenen, die noch immer erkannt werden können, schwer abzuschätzen sind. Dies erklärt, wieso es zu sehr unterschiedlichen Infektionsverläufen von Mensch zu Mensch kommen kann: Auch wenn die Immunfunktion im Alter in der Regel nachlässt, gibt es auch Menschen, deren Immunsystem bis ins hohe Alter reaktiv und lernfähig bleibt.
Des Weiteren werde vor diesem Hintergrund verständlich, dass die Immunschwäche im Alter besonders ausgeprägt bei neuauftretenden Infektionen ist, wie zum Beispiel beim Auftreten neuartiger Grippestämme oder bei SARS-CoV-2. Der neue Keim stelle eine Unbekannte für das gealterte Immunsystem dar, dem nur eingeschränkte Ressourcen zur Verfügung stehen, um ihn zu erkennen und zu beseitigen.
Ganz anders sieht es aus mit Infektionen, die im Lauf des Lebens bereits erfolgreich bekämpft wurden, und die ein Immungedächtnis hinterlassen haben. Hier entsteht in der Regel ein langfristiger und ausgiebiger Immunschutz, der auch im hohen Alter noch gut funktionieren kann.
Schließlich erwähnte Cicin-Sain, dass ältere Menschen wenn möglich mit stärker wirkenden Impfstoffen immunisiert werden müssen. Man brauche in dieser Situation sowohl stärkere Adjuvanzien als auch mehr Antigene in solchen Impfstoffen, um die verbleibenden naiven Lymphozyten ausreichend zu aktivieren, ein gutes Immungedächtnis und einen guten Immunschutz zu erreichen. Dies führe allerdings dazu, dass der Impfstoff reaktiver sein und eine höhere Rate an spürbaren Nebenwirkungen hervorrufen könne. In der Beratung von Patientinnen und Patienten, so der Infektionsforscher, sollten diese Zusammenhänge transparent dargestellt werden.