Die ergriffenen Infektionskontrollmaßnahmen reichen wahrscheinlich nicht aus

Ulm – Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) weist in einer Stellungnahme darauf hin, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der SARS-CoV-2-Epidemie nicht ausreichen könnten, um einen Verlauf innerhalb der Kapazitäten des Gesundheitssystems sicherzustellen.
Basierend auf Modellen der Infektionsausbreitung mahnen sie an, auch über die Umsetzung weiterer Maßnahmen nachzudenken. Aktuell liege „ein kurzes Zeitfenster von 1 bis 2 Wochen vor“, in dem eine Überlastung des Gesundheitssystems noch vermieden werden könne.
„Bei einem längeren Abwarten schreitet die bis dahin nicht ausreichend gebremste Epidemie so weit voran, dass das Gesundheitssystem Probleme bekommt“, erklärt Rafael Mikolajczyk, Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik in Halle/Saale, der an der Formulierung der Stellungnahme der DGepi beteiligt war. Abhängig davon, was man mit den bisherigen Maßnahmen bereits an Reduktion erreicht habe, könne dieses Zeitfenster auch länger offen sein. Das wichtigste Ziel sei momentan, „Anstrengungen zu unternehmen, um die Basisreproduktionszahl möglichst stark abzusenken“, betont Mikolajczyk.
Die Basisreproduktionszahl eines Virus ist entscheidend
Aus epidemiologischer Perspektive ist die Basisreproduktionszahl eines Virus entscheidend für den Verlauf eines Ausbruchs. Sie gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Für SARS-CoV-2 wird die Basisreproduktionszahl auf 2 bis 3 geschätzt. Sie erlaubt es den Epidemiologen mithilfe von Rechenmodellen und unter Berücksichtigung weiterer Faktoren den Verlauf der Epidemie zu prognostizieren.
Im – epidemiologisch gesehen – einfachsten Fall gibt es keine Kontrollmaßnahmen (zum Beispiel Senkung der Übertragungswahrscheinlichkeit durch konsequente Händehygiene, Isolation von infizierten Personen, Quarantäne von Kontaktpersonen) und Verhaltensänderungen (zum Beispiel Verminderung sozialer Kontakte, Ausgangssperren). Dann würde der Höhepunkt des SARS-CoV-2-Ausbruchs mit einer maximal infizierten Zahle von 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung bereits im Sommer 2020 erreicht werden, heißt es in der Stellungnahme.
In diesem Fall würden in einem kurzen Zeitraum eine sehr große Zahl an Patienten eine Behandlung auf Intensivstationen benötigen. Das Gesundheitssystem wäre hiervon sehr schnell überfordert, so die Experten. Derzeit verfüge das Gesundheitssystem in Deutschland über circa 30.000 intensivmedizinische Betten. Die meisten davon würden aber für Patienten benötigt, die unabhängig von der COVID-19-Pandemie intensivpflichtig seien.
Das Szenario eines unkontrollierten Verlaufs ist allerdings nicht zu erwarten, da bereits Maßnahmen zur Verlangsamung und Eindämmung der Epidemie ergriffen wurden. In welchem Ausmaß diese einen Effekt auf die Verbreitung des Virus haben werden, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen.
Die DGEpi geht zwar davon aus, dass die bisher getroffenen Maßnahmen die effektive Reproduktionszahl bereits gesenkt haben. Aber: „Das Ausmaß ist dabei nicht klar“, erklärt Mikolajczyk.
Reproduktionszahl muss ausreichend stark gesenkt werden
Die Modellrechnungen der DGEpi zeigen: Nur falls es gelingen würde, die effektive Reproduktionszahl in den Bereich von 1 bis 1,2 zu senken, würde die Ausbreitung des Virus ausreichend verlangsamt, um einen Verlauf innerhalb der vorhandenen Kapazitäten des Gesundheitssystems zu ermöglichen. Der Weg zu einer Eindämmung der Epidemie sei dann gar nicht mehr so weit: Dies würde Mikolajczyk zufolge eine nur geringgradig stärkere Reduktion der effektiven Reproduktionszahl auf einen Wert unter 1 erfordern.
Da in beiden Fällen strenge Maßnahmen nötig seien, sprechen sich die Epidemiologen dafür aus, die Anstrengungen zur Eindämmung der Epidemie weiter zu verfolgen. Dafür sei eine Einschränkung der sozialen Kontakte auf das Notwendigste erforderlich, schreiben sie.
Die Maßnahmen, die bereits von der Bundesregierung umgesetzt wurden, unterstützen die Epidemiologen zwar, aber „wir mahnen an, kritisch die Umsetzung weiterer Maßnahmen zu prüfen“, schreiben sie in der Stellungnahme. Die Epidemie nur „etwas“ verlangsamen, sei nicht hilfreich, so Mikolajczyk.
Dennoch, Mikolajczyk sieht noch eine Chance, eventuell ohne Ausgangssperren wie in den Nachbarländern auszukommen: „Um die Ausbreitung des Virus völlig in den Griff zu bekommen, ist es entscheidend, wie die Gesellschaft die bisherigen Maßnahmen befolgt und sich freiwillig einschränkt“, erklärt er. „Je mehr das verstanden wird, umso weniger müssen die Maßnahmen verschärft werden.“
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