Medizin

Brite scheidet 28 Jahren nach Polio-Impfung pathogene Viren aus

  • Freitag, 28. August 2015

London – Angesicht der sinkenden Erkrankungszahlen in Afghanistan und Pakistan, den letzten Ländern in denen die Polio noch auftritt, scheint eine Eradikation der Viruskrank­heit in greifbarer Nähe zu sein. Das Beispiel eines Langzeitausscheiders aus Groß­britannien, der in PLOS Pathogens (2015; 11: e1005114) vorgestellt wurde, zeigt jedoch, dass die Gefahr der Kinderlähmung damit nicht gebannt ist. 

Mehr als 16,5 Milliarden US-Dollar haben die Versuche der Rotarier, der Weltge­sundheit­sorganisation (WHO) und zuletzt der Gates-Stiftung bisher gekostet, die Polio zu eradizieren. In diesem Jahr hat es nur noch in Pakistan und Afghanistan vereinzelte Erkrankungen gegeben. Sollten die dortigen Impfkampagnen ungehindert fortgesetzt werden können, dann dürften auch diese Länder bald poliofrei sein.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keine Polio-Viren mehr gibt. Die Impfung erfolgt in den meisten Ländern mit dem oralen Impfstoff, der aus abgeschwächten, aber lebensfähigen Viren besteht. Diese Viren vermehren sich nach der Impfung im Darm der Impflinge. Dies verstärkt zwar die Schutzwirkung. Polioviren neigen jedoch wie die meisten Viren zu Mutationen. Dabei können sich die abgeschwächten Impfviren wieder in pathogene Viren verwandeln, die eine Kinderlähmung auslösen. Diese cVDPV („circulating vaccine-derived poliovirus“) sind in den letzten Jahren immer wieder aufgetreten. In diesem Jahr haben sie auf Madagaskar eine kleine Epidemie ausgelöst.

Die Existenz der cVDPV ist der Grund, warum die Polio-Impfungen auch nach der Eradikation noch einige Zeit fortgesetzt werden müssen, wobei die WHO in dieser Endphase den oralen langsam gegen den inaktivierten Impfstoff ersetzen will, aus dem keine cVDPV entstehen (und der nicht über den Darm ausgeschieden wird). Wie lange diese Phase andauert, ist unbekannt. Normalerweise werden die Polioviren nach der Impfung nur über einige Monate ausgeschieden. Bei immungeschwächten Menschen ist dies jedoch auch noch nach Jahren möglich, wie der Fall eines britischen Patienten zeigt, den Javier Martin vom National Institute for Biological Standards and Control in Potters Bar bei London jetzt vorstellt.

Der Mann hatte als Kind (im Alter von 5, 7 und 12 Monaten, plus einen Booster im Alter von 7 Jahren) noch den oralen Impfstoff erhalten (Großbritannien hat inzwischen wie die meisten anderen Länder auf den inaktivierten Impfstoff gewechselt). Er leidet jedoch, wie später entdeckt wurde, seit seiner Geburt an einer Abwehrschwäche. Sie verhindert, dass das Immunsystem die Viren vollständig aus dem Darm eliminiert. Die Gesundheits­behörden untersuchen seither regelmäßig die Stuhlproben auf Polio-Viren. IN allen 185 Proben wurden Viren nachgewiesen. Der Mann ist auch 28 Jahren nach Abschluss der Impfungen ein Dauerausscheider geblieben.

Während dieser Zeit haben sich die Viren genetisch verändert. Dabei sind offenbar cVDPV entstanden. Bei transgenen Mäusen (mit menschlichen Polio-Rezeptoren) lösten sie regelmäßig schlaffe Lähmungen aus, berichtet Martin. Ältere Jahrgänge der britischen Bevölkerung sind, wie Blutuntersuchungen ergaben, nicht von einer Infektion bedroht. Ihre Antikörper waren in der Lage die cVDPV zu  neutralisieren. Dank der oralen Impfung verfügen sie auch im Darm über eine ausreichende Immunität.

Kinder, die nach 2004 den inaktivierten Impfstoff erhalten haben, könnten allerdings infiziert werden. Sie wären aufgrund der Antikörper im Blut wahrscheinlich vor einer Kinderlähmung geschützt. Sie könnten die Viren aber über den Darm ausscheiden und so deren Ausbreitung fördern. In diesem Fall müsste in Großbritannien vorübergehend wieder die Schluckimpfung eingeführt werden. 

Dieses Szenario ist derzeit nicht aktuell. Stark mutierte Impfstoff-Viren sind jedoch in den letzten Jahren in der Slowakei, Finnland, Estland und Israel vereinzelt in Abwasser­proben nachgewiesen worden. Solange diese Viren existieren, ist die Eradikation der Polio nicht abgeschlossen. Die Existenz von Langzeitausscheidern wie dem britischen Patienten zeigen, dass die Endphase der Eradikation länger als geplant dauern könnte.

rme

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