Medizin

Brain-Com­puter-Interface triggert partielle neurologische Erholung nach Querschnitt­lähmung

  • Freitag, 12. August 2016
Uploaded: 12.08.2016 10:10:00 by mis
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Durham -  Acht Patienten, die in einem Forschungsprojekt gelernt haben, mit Hilfe eines Brain-Computer-Interface Avatare zu steuern und sich mit Exoskeletten zu bewegen, wobei sie taktile Rückmeldungen am Oberarm erhielten, gewannen zur Überraschung der Wissenschaftler im Verlauf der Zeit gewisse sensible und leichte motorische Fähigkeiten in den gelähmten Extremitäten zurück. In ihrer Publikation in Scientific Reports (2016; 6: 30383) suchen die Wissenschaftler nach Erklärungen.

Eine Querschnittlähmung ist unwiderruflich: Die Verletzung hat die Verbindung zwischen Gehirn und den ausführenden Muskeln und Sinneszellen auf Dauer zerstört. Der Körper kann diesen Defekt nicht reparieren. Das Team um Miguel Nicolelis von der Duke Uni­versität in Durham/North Carolina ging deshalb davon aus, dass die acht Teilnehmer des „Walk Again Project“ ihre gelähmten Muskeln niemals wieder aus eigenem Antrieb bewegen werden. Sie rechneten auch nicht damit, dass die Berührungsempfindung auf der Haut zurückkehren könnte. Fest stand ferner, dass die querschnittgelähmten Patienten auf der Toilette auf viszerale Reflexe angewiesen sein werden, die nicht der Steuerung des Gehirns unterliegen. 

Das „Walk Again Project“ war anlässlich der Fußballweltmeisterschaft zusammen mit brasilianischen Forschern begonnen worden. Sie wollten das Ereignis nutzen, um der breiten Öffentlichkeit zu demonstrieren, wozu ein Brain-Computer-Interface mittlerweile in der Lage ist. Auf der Eröffnungsfeier kickte dann Julian Pinto, ein junger Mann, der von der Brust abwärts gelähmt war, den ersten Ball der Weltmeisterschaft. Dies war möglich, weil EEG-Elektroden die Absicht des Patienten aufgefangen hatten, ein Computer daraus Steuerungsbefehle für die Motoren eines Exoskeletts generiert hatte, das dann das Bein des Patienten bewegte.

Das Projekt beschränkte sich nicht auf die publikumswirksame Vorstellung in der Fußballarena. Um die Möglichkeit des Brain-Computer-Interface auszuloten, nahmen die acht Patienten an einem umfangreichen Trainingsprogramm teil. Dabei lernten sie zunächst, mittels ihrer Gedanken künstliche Personen (Avatare) in einer virtuellen Umgebung zu lenken. Später wurden sie auf einem Laufband bewegt, wobei die Signale von Drucksensoren in den Schuhsohlen an eine Manschette am Arm weitergeleitet wurden. Dort spürten sie auf der Haut, wie sich das Laufen anfühlt. In einer weiteren Übung lernten die Patienten, wie sie mittels ihrer Gedanken ein Exoskelett zu Gehbewegungen veranlassen können. Dabei wurden redliche Fortschritte erzielt.

Doch dann kam es zu einer Entwicklung, die die Forscher nicht vorhergesehen hatten. Nach Monaten intensiven Trainings bemerkten die Patienten Zeichen einer echten neurologischen Erholung. Einige nahmen in den gelähmten Bereichen in einem begrenzten Ausmaß Berührungen wahr, andere waren plötzlich wieder in der Lage, einzelne Muskeln bewusst anzuspannen. Die Patienten waren weit davon entfernt, sich von ihren neurologischen Ausfällen zu erholen. Doch am Ende wurden vier der acht Patienten laut Nicolelis von einer vollständigen auf eine partielle Querschnittlähmung zurückgestuft.

Am spektakulärsten waren die Entwicklungen bei der ersten Patientin, einer 32-jährigen Frau, die zu Beginn der Studie seit 13 Jahren gelähmt war. Anfangs war sie nicht in der Lage, sich mit Stützen aufrecht zu halten. Im Verlauf der Studie lernte sie dann, sich mit Beinschienen, einem Rollator und der unterstützenden Hand eines Assistenten eigenständig fortzubewegen. Nach 13 Monaten Training war sie in der Lage, ihre Beinmuskeln zu steuern, während sie von Gurten gehalten wurde. 

Bei allen acht Patienten kam es laut Nicolelis in mehreren Dermatomen zu einer Verbesserung in sensiblen Fähigkeiten wie Schmerzlokalisierung, feine und grobe Berührung oder auch in der Propriozeption, der Wahrnehmung von Körperbewegungen. Bei einigen Patienten besserten sich auch die Blasen- und Darmfunktionen. So nahm die Frequenz der spontanen Stuhlgänge zu.

Das Ganze grenzte zwar nicht an ein Wunder, denn keiner der Patienten kann auch nur ansatzweise als rehabilitiert betrachtet werden. Die Ergebnisse verlangen jedoch nach Erklärungen. Das Brain-Computer-Interface, das ja die Nervenbahnen des Rücken­marks umgeht, kann unmöglich eine Reparatur der Querschnittlähmung ausgelöst haben.

Nicolelis vermutet, dass die Querschnittlähmung bei den Patienten nicht komplett war. Das Training mit dem Brain-Computer-Interface könnte dazu geführt haben, dass die verbliebenen Nervenfasern einer neuen Funktion zugeführt wurden. Diese Plastizität des Gehirns ist von Schlaganfällen her bekannt. Dort erholen sich die Patienten von Lähmungen, weil andere Hirnzellen die Funktion der abgestorbenen Hirnareale übernehmen.

Die Reha-Behandlung hat heute das Ziel, diese Umverteilung zu fördern. Bei den Querschnittgelähmten könnte es zu ähnlichen Phänomenen gekommen sein. Das Kunststück bestand jedoch darin, dass das Gehirn die wenigen nicht unterbrochenen Nervenverbindungen für die neue Funktion erkennen und rekrutieren musste. Sollten andere Forscher die Ergebnisse reproduzieren, dann könnten Brain-Computer-Interfaces in Zukunft die Reha-Behandlung von Querschnittgelähmten fördern.

rme

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