Notaufnahmen im Defizit – KBV kritisiert Reformstau in den Kliniken

Berlin – „Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind vielerorts stark überlastet und absolut unterfinanziert. Sie werden immer stärker zum Lückenbüßer für die eigentlich zuständigen Bereitschaftsdienste der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen).“ Diesen Vorwurf hat heute in Berlin Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), erhoben. Er beruft sich dabei auf ein Gutachten, das die DKG gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) in Auftrag gegeben hat.
„Die DKG zeigt selber auf, dass die Kliniken eine weitergehende Öffnung für die ambulante Versorgung nicht verkraften können. Dieses Eingeständnis muss die Politik hellhörig machen“, kommentierte indes der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, die in der Studie vorgelegten Zahlen.
Nach Baums Darstellung verzeichnen die Krankenhäuser in Deutschland mittlerweile rund zehn Millionen ambulante Behandlungsfälle pro Jahr. Acht Millionen davon betreffen Behandlungen, um einen Notfall abzuklären. Doch nach Ansicht der DKG könnte die Hälfte davon, nämlich vier Millionen Kranke, auch von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Praxen versorgt werden.
Etwa 30 Prozent der acht Millionen Notfallpatienten erhalten nämlich eine „allgemeine Notfallbehandlung“, für die man nicht ins Krankenhaus gehen müsste. Weitere 20 Prozent werden im Rahmen einer „fachspezifischen Notfallbehandlung“ versorgt, bekommen also eine Wunde genäht, einen Dauerkatheter gelegt, eine Ultraschalluntersuchung gemacht oder Ähnliches. „Diese Behandlungsfälle könnten aus medizinischer Sicht durchaus im vertragsärztlichen Bereich versorgt werden, wenn durch die KVen flächendeckend auch fachspezifische Bereitschaftsdienste bereitgestellt würden“, so die Einschätzung von DKG und der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA).
Die zwei Organisationen berufen sich dabei auf ein Gutachten, das sie gemeinsam in Auftrag gegeben haben. Dafür überließen 55 Krankenhäuser mit mehr als 600.000 ambulanten Notfällen der Firma Management Consult Kestermann (MCK) fallbezogene Kosten- und Leistungsdaten zur Auswertung. 37 davon steuerten Angaben zu ihren Erlösen bei. Aus den Ergebnissen hat MCK unter anderem hochgerechnet, wie viele Notfälle von niedergelassenen Ärzten versorgt werden könnten. Die Daten sind zwar nicht repräsentativ. Baum verwies aber darauf, dass sie eine gute Grundlage für die Diskussion über eine dringend notwendige Weiterentwicklung der ambulanten Notfallversorgung böten.
Gutachten: 32 Euro pro Fall – bei Kosten von mehr als 120 Euro
Diese Debatte ist aus seiner Sicht unverzichtbar, weil die hohe Inanspruchnahme der Notfallaufnahmen in Kliniken nicht nur Ärzte und Pflegekräfte belastet und lange Wartezeiten für Patienten verursacht, sondern die Häuser auch in eine finanzielle Misere bringt. Dem MCK-Gutachten zufolge erhalten Krankenhäuser im Schnitt 32 Euro pro ambulantem Notfall. Dem stehen aber durchschnittliche Fallkosten von mehr als 120 Euro gegenüber.
Rechnet man dies hoch und bezieht für die Studie nicht erfasste Investitionskosten mit ein, kommt man nach Ansicht von MCK auf ein Gesamtdefizit von einer Milliarde Euro jährlich, das den Krankenhäusern durch unzureichend vergütete Notfallbehandlungen entsteht. „Hintergrund der Misere ist, dass die Vergütung der ambulanten Notfallleistungen der Krankenhäuser nach den Vergütungssätzen der niedergelassenen Ärzte erfolgt. Eine auf die deutlich breiteren Behandlungsmöglichkeiten der Krankenhäuser abgestimmte Vergütung findet nicht statt“, so die Gutachter.
„Die Krankenhäuser sehen sich in der Leistungspflicht für jeden, der Hilfe in einer Notaufnahmen sucht, und geraten dadurch in eine Kostenfalle“, erläuterte Baum. Viele Patienten suchten die Notaufnahmen der Krankenhäuser auf, weil im vertragsärztlichen Bereich kein geeignetes oder ausreichendes Versorgungsangebot für Notfälle vorhanden sei. Auch die zunehmenden Terminprobleme in Praxen spielten eine Rolle.
400 Bereitschaftsdienstpraxen an Kliniken reichen nicht aus
Bisherige Kooperationen zwischen ambulantem und stationärem Sektor zur Versorgung von Patienten außerhalb der Praxissprechzeiten seien nicht ausreichend, ergänzte Timo Schöpke, Generalsekretär der DGINA. Ein Drittel der Krankenhäuser, die Daten für das Gutachten lieferten, gab zwar an, bereits zu kooperieren. Doch nach Darstellung von Schöpke fehlt es an Angeboten zur fachspezifischen Notfallversorgung im ambulanten Bereich. Und das Angebot der von niedergelassenen Ärzten betriebenen Bereitschaftspraxen an Krankenhäusern reiche nicht aus. Zwar gibt es mittlerweile rund 400 solcher Praxen. „Die wenigsten haben aber in der sprechstundenfreien Zeit durchgehend geöffnet“, meinte Schöpke.
Die DKG verlangt für die Zukunft mehr Geld und mehr Einflussnahme auf die Bedingungen der ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus. Dafür müsse „eine geeignete Vergütung geschaffen werden, die den Behandlungsmöglichkeiten und den damit verbundenen Kostenstrukturen der Krankenhäuser Rechnung trägt“, so ihr Hauptgeschäftsführer. Baum will, dass die Krankenhäuser direkt mit den Krankenkassen über den Rahmen und die Bezahlung der ambulanten Notfallversorgung verhandeln können.
Darüber hinaus gehöre der zehnprozentige Investitionsabschlag abgeschafft, den die Krankenhäuser hinzunehmen hätten, obwohl die Länder nicht ausreichend Investitionsmittel bereitstellten. Darüber hinaus solle der Gesetzgeber vorschreiben, dass die KVen Bereitschaftsdienstpraxen an Kliniken einrichten müssen. Die KVen reklamierten die Zuständigkeit für die ambulante Notfallversorgung für sich, kritisierte Baum: „Das ist nicht die Realität. Die ambulante Notfallversorgung findet im Krankenhaus statt.“
KBV verweist auf flächendeckenden Bereitschaftsdienst und die 116 117
Diese Annahme lehnt die KBV ab und verweist auf den flächendeckenden ärztlichen Bereitschaftsdienst, der unter der Telefonnummer 116117 in ganz Deutschland erreichbar sei. „Allein 2014 haben über fünf Millionen Bürger diesen Service in Anspruch genommen. Das hat auch den eigentlichen Notfalldienst erheblich entlastet“, so Gassen. Nach Auffassung der KBV zeigt das Gutachten, dass die Krankenhäuser notwendige Strukturreformen lange verschleppt haben. „Das rächt sich nun bei den Kliniken“, so Gassen.
Er wies darauf hin, dass insbesondere kleinere Häuser viele ärztliche Leistungen gar nicht mehr vorhalten könnten. „Ohne die niedergelassenen Ärzte ist eine gute Versorgung der Patienten nicht zu bewerkstelligen – insbesondere im Notfall“, betonte der KBV-Chef. Der Facharztstatus im niedergelassenen Bereich bürge zudem für Qualität. Im Krankenhaus könne sich der Patient dagegen nicht sicher sein, welche Qualifikation der behandelnde Mediziner habe.
„Wenn die Behandlung eines Patienten mit einem verstauchten Knöchel oder einer fiebrigen Erkältung nur deshalb um ein Vielfaches teurer wird, weil er ambulant in einem Krankenhaus statt von einem niedergelassenen Arzt versorgt wurde, dann läuft etwas schief“, erklärte Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbandes. Tauchten zunehmend Patienten mit einfachen Erkrankungen in der Notaufnahme auf, könne man nicht in jedem einzelnen Fall die Vorhaltekosten komplexer Hightech-Medizin mit abrechnen. „Wir erwarten, dass die Krankenhäuser bei einem sich ändernden Behandlungsbedarf ihr Leistungsangebot den Bedürfnissen der Patienten anpassen und nicht einfach nur nach mehr Geld rufen“, sagte Lanz.
Der GKV-Spitzenverband forderte Krankenhäuser und KVen auf, gemeinsam nach konstruktiven Lösungen suchen: „Wenn die KVen ihrem Versorgungsauftrag nicht nachkommen und deshalb die Patienten am Wochenende mit einfachen Erkrankungen in die Notaufnahme kommen, darf das Problem nicht bei den Beitragszahlern abgeladen werden.“
Der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn befand, die Notfallambulanzen der Krankenhäuser leisteten ohne Zweifel jeden Tag rund um die Uhr Enormes. „Wir müssen sie besser mit dem ambulanten ärztlichen Notdienst verzahnen, dann kann man auch über eine bessere Vergütung reden“, meinte Spahn. Dies plane man mit dem Versorgungsstärkungsgesetz.
NAV: Notfallversorgung wird auch ambulant schlecht vergütet
Als „gleichermaßen dreist wie hilflos“ bezeichnete Dirk Heinrich, Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes, die Forderungen der DKG: „Dreist, weil die DKG selbst einräumt, dass sie dadurch nur ihre bestehenden finanziellen Defizite decken will, und hilflos, weil sie sich mittlerweile nicht anders zu helfen vermag, als sich bei den Praxisärzten zu bedienen, nur weil sie selbst den längst überfälligen Strukturwandel verschlafen hat.“ Die deutschen Krankenhäuser litten seit Jahren an Überkapazitäten und Bettenleerstand. Diesen Kostenblock und fehlende Investitionen aus den Ländern wolle man „durch Wilderei in anderen Sektoren“ ausgleichen, kritisierte Heinrich.
Die Politik solle schnellstmöglich überprüfen, ob die im Versorgungsstärkungsgesetz vorgesehene weitreichende ambulante Öffnung der Krankenhäuser nicht eine grobe Fehlentscheidung sei. „Wer heute in die Notaufnahmen der Krankenhäuser blickt, sieht dort in erster Linie Warteschlangen und überfordertes Personal“, sagte der NAV-Vorsitzende.
Er verwies darauf, dass der Notdienst auch im niedergelassenen Bereich defizitär sei und niedrig vergütet. Die Krankenhäuser erklärten zudem nicht, wie sie Hausbesuche im Notfall organisieren wollten und wie der Qualitätsunterschied zwischen einem Facharztstandard im Krankenhaus und dem Facharztstatus bei niedergelassenen Ärzten ausgeglichen werden solle.
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