Politik

Regionale Unterschiede: Diskussion über die Daten von OECD und Bertelsmann

  • Dienstag, 16. September 2014

Berlin – Die jüngsten Veröffentlichungen zu regionalen Unterschieden in der Gesund­heitsversorgung haben heute in Berlin zu einer lebhaften Diskussion über die Gründe dafür geführt. Eingeladen zu der wissenschaftlichen Veranstaltung hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gemeinsam mit der Bertels­mann Stiftung. Die OECD hat gerade regionale Unterschiede zwischen und innerhalb von 13 Ländern analysiert. Die Bertelsmann Stiftung hat einen neuen „Faktencheck Gesundheit“ vorgelegt, der die innerdeutschen Variationen für neun Indikationen auf­zeigt.

Die OECD stellt in ihrem Bericht fest, dass manche Unterschiede im Umfang der Versor­gung innerhalb einiger Länder sogar größer sind als zwischen den analysierten 13 Län­dern. So sind in Kanada, Portugal, Finnland und England die Einweisungsraten in ein Krankenhaus in manchen Regionen zwei- bis dreimal so hoch wie in anderen Teilen des Landes.

Die Gründe für solche und andere Unterschiede sind vielfältig und meist nicht vollständig zu erklären. Dort, wo mehr Krankenhausbetten zur Verfügung stehen, ist die Auslastung auch höher. Doch mancherorts spielen auch der Umfang und die Qualität der Primär­versor­gung eine Rolle: In Kanada wurden in ländlichen Regionen 60 Prozent mehr Patienten in Kliniken eingewiesen, die man hätte ambulant behandeln können, als in städtischen Regionen. Auch der Einfluss medizinischer Schulen sowie sozio-ökono­mischer Faktoren auf die Gesundheitsversorgung konnte nachgewiesen werden.

Die Bertelsmann Stiftung kommt in ihrem Faktencheck zum Ergebnis, dass die regio­nalen Unterschiede in Deutschland sehr groß sind. So variiert die Häufigkeit von Operationen zur Entfernung der Gaumenmandeln zwischen den Bundesländern um etwa das Dreifache. In einigen Kreisen wurden sogar achtmal so vielen Kindern die Mandeln entfernt wie in anderen. Auffällig ist auch, dass in manchen Kreisen scheinbar generell häufiger operiert wird als in anderen. Allerdings zeigte sich auch, dass die regionalen Unterschiede stark schrumpfen, wenn man bei den rund 400 analysierten Kreisen die jeweils 20 mit den höchsten und den niedrigsten Operationsraten heraus rechnet.

Bertelsmann: Die optimale Versorgung kennt man nicht
„Wir reden nicht über gute oder schlechte Versorgung. Wir reden über Abweichungen vom Bundesdurchschnitt“, betonte Jan Böcken, Bertelsmann Stiftung. „Man kann nicht genau sagen, woran es liegt“, resümierte seine Kollegin Marion Grote-Westrick die einzelnen Ergebnisse. Ein Ansatz zur Klärung könne darin bestehen, auf besonders auffällige Kreise zuzugehen und die Ergebnisse mit den Verantwortlichen dort zu analysieren.

Experten aus England und den USA hatten zuvor verdeutlicht, dass die Diskussion über regionale Unterschiede in ihren Heimatländern häufig schon weniger emotional geführt wird und man den Gründen dafür konsequenter nachgeht. Gerade deshalb weiß man aber, dass die Ursachen vielschichtig sind und sich nicht allein auf falsche finanzielle Anreize oder ähnliches zurückführen lassen.

Montgomery: Leitlinienarbeit ist teuer
Lobende wie kritische Worte fand Frank Ulrich Montgomery für die Studien und ihre ersten Auswertungen in den Medien. Der Präsident der Bundesärztekammer lobte Bertelsmann dafür, mit dem Faktencheck „unser Problembewusstsein zu schärfen“. Er ergänzte aber, man messe „Surrogatparameter, ohne zu wissen, was sie bedeuten“. Montgomery nahm zudem beispielhaft die Daten zu den großen regionalen Unter­schieden bei Mandeloperationen zum Anlass, um auf die Probleme infolge von fehlenden hochwertigen Leitlinien hinzuweisen. Es gebe eben Fächer mit verschiedenen Schulen, gab er zu bedenken: „Hier fehlen vorbildliche Leitlinien.“ Dies sei kein Vorwurf an ein Fach, stellte er klar. Leitlinien zu erstellen, sei mittlerweile so aufwendig und teuer, dass sich dies manche Fächer nicht im gewünschten Umfang leisten könnten. 

Uwe Deh, Vorstand des AOK-Bundesverbands, forderte dazu auf, die Daten nicht vorschnell zu interpretieren, aber auch nicht so zu tun, als seien regionale Unterschiede eben normal. Sie hätten viel mit Qualitätsunterschieden und einem unterschiedlich effizienten Mitteleinsatz in den Regionen zu tun, sagte Deh. Er kritisierte, dass man in Deutschland regionale Unterschiede seit langem beschreibe, aber Erkenntnisse nicht als Impulse zum Handeln aufgreife. So hatte Bertelsmann in einem ersten Faktencheck bereits für die Jahre 2007 bis  2009 regionale Unterschiede analysiert. Ein Vergleich des ersten mit dem aktuellen Check und damit Daten von 2010 bis 2012 ergab viele Überein­stimmungen und wenig Veränderungen. Mit Blick auf die Analysen von OECD und Bertels­mann forderte der AOK-Vorstand, „dass wir den Schritt zu den Konsequenzen gehen“.

Windhorst: Daten müssen von Ärzten analysiert werden 
„Wenn es in der Patientenversorgung wirklich zu gewichtigen regionalen Unterschieden zu kommen scheint, müssen wir der Sache auf den Grund gehen“, betonte der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Theodor Windhorst. „Ob es wirklich gravierende Probleme durch manipulative Überversorgung oder vernachlässigende Unterversorgung sind, muss eine genaue Betrachtung von ärztlicher Seite vor Ort zeigen“, so der Kammer­präsident. Die Studien von OECD und Bertelsmann sind nach seiner Ansicht eine „Darstellung der Leistungsverteilung, mit der man arbeiten kann und muss, um Fehlversorgung von Patienten zu vermeiden“.

Windhorst warnte auch davor, Durchschnittswerten zu viel Bedeutung beizumessen. „Als Messlatte zur Beurteilung einer guten Versorgung sind sie vollkommen ungeeignet“, sagte er. „Geradezu hüten muss man sich, unreflektiert auf internationale Vergleiche Bezug zu nehmen. Denn vermeintlich niedrigere Operationszahlen sind alles andere als ein Zeugnis von Qualität, wenn sie aus Ländern stammen, die beispielsweise allein das Alter eines Patienten zum Ausschlussgrund für eine Operation machen oder in denen – wegen mangelnder eigener Kapazitäten – Patienten zum Operieren ins Ausland geschickt werden.“

Rie

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung