Bundestag erinnert an „Euthanasie“-Verbrechen
Hamburg – Die Ermordung von Behinderten, Kranken und Pflegebedürftigen war das erste vom NS-Regime in Gang gesetzte systematische Massenmordprogramm – und bis heute werden dessen Ausmaße häufig unterschätzt. Schätzungsweise 300.000 wehrlose Männer, Frauen und Kinder töteten Ärzte, Krankenpfleger und SS-Mordkommandos in den deutsch-kontrollierten Gebieten von 1939 bis 1945. Zum jährlichen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert der Bundestag in Berlin morgen nun erstmals speziell an diese „Euthanasie“-Verbrechen.
Die geistigen Wurzeln des Mordprogramms fanden sich in einer Weltanschauung, wonach die Bevölkerung durch eine notfalls radikale „Auslese“ von „Ballastexistenzen“ befreit und für einen ständigen Überlebenskampf gegen andere Völker und „Rassen“ gestärkt werden sollte. Daraus entwickelten sich verschiedene, miteinander verzahnte Massenmordprogramme.
Am bekanntesten ist die sogenannte Aktion T4, bei der etwa ab Kriegsbeginn 1939 Kranke und Behinderte zentral erfasst und deutschlandweit in sechs Tötungsanstalten in Gaskammern mit Kohlenmonoxid erstickt wurden. 70.000 Menschen starben. Nachdem diese Morde zunehmend für Unruhe sorgten und der damalige Bischof von Münster sie öffentlich kritisierte, stellte die NS-Führung sie nach rund zwei Jahren vordergründig ein. Sie waren allerdings nur die Spitze.
Die Tötungsanstalten im hessischen Hadamar und anderswo blieben weiterhin in Betrieb, etwa um erkrankte Häftlinge aus Konzentrationslagern zu töten. Parallel gingen Patientenmorde in unorganisierterer Weise dezentral weiter. In Heimen und Krankenhäusern töteten Ärzte und Pfleger bis Kriegsende schätzungsweise weitere 90.000 Menschen durch Medikamenteninjektionen oder ließen sie verhungern. Einer separaten „Kindereuthanasie“ fielen 5.000 Kinder zum Opfer.
In den von Deutschland besetzten Gebieten Osteuropas ermordeten umherfahrende Todeskommandos massenhaft Kranke und Behinderte in bis heute nicht einmal genau bekannter Zahl. Kliniken in Polen und in der Sowjetunion wurden beim deutschen Vormarsch systematisch „leergemordet“. Dabei kamen SS-Kommandos zum Einsatz, die Massenerschießungen ebenso nutzten wie Lastwagen, in denen Patienten mit Autoabgasen getötet wurden.
Nicht zufällig gab es engste Verbindungen zwischen „Euthanasie“ und Holocaust. Die bei den Patientenvergasungen gemachten Erfahrungen spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau der großen Vernichtungslager, in denen Millionen Juden fließbandartig ermordet wurden. Die verantwortlichen Täter waren teils dieselben. Zu den „Euthanasie“-Verbrechen gehört auch die Verstümmelung von rund 360.000 Menschen durch Zwangssterilisationen. Nach 1945 wurde das Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen lange kaum beachtet.
Die Ärzteschaft hat dieses dunkle Kapitel ihrer Geschichte vielfach aufgearbeitet. Der Deutsche Ärztetag befasste sich bereits 2012 intensiv mit der Aufarbeitung der Geschichte. Die Delegierten hatten in Form einer „Nürnberger Erklärung“ einstimmig zu den Menschenrechtsverletzungen und Untaten der Medizin zu Zeiten des Nationalsozialismus Stellung genommen. Die Erklärung enthält den Hinweis, dass medizinische Fachgesellschaften ebenso wie Vertreter der universitären Medizin und renommierte biomedizinische Forschungseinrichtungen beteiligt waren.
„Wir bekunden unser tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte sich entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, gedenken der noch lebenden und der bereits verstorbenen Opfer sowie ihrer Nachkommen und bitten sie um Verzeihung“, heißt es.
Der Deutsche Ärztetag verpflichte sich, darauf hinzuwirken, dass die weitere historische Forschung und Aufarbeitung finanziell wie institutionell von den Gremien der Ärzteschaft gefördert werde, auch in Form eines unbeschränkten Zugangs zu den Archiven.
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