Immune Imprinting: Kann Impfen Sünde sein?

Berlin – Eine frühere Impfung oder eine Infektion mit einer Prä-Omikron-Variante könnte die Reaktion auf aktuell zirkulierende Stämme beeinträchtigen. Doch die Meinungen dazu gehen auseinander. Das Argument der Originalantigensünde (Original Antigenic Sin, OAS), auch als Immune Imprinting bekannt, steht im Raum.
Die Theorie dahinter besagt: Ist der Körper bereits einmal in Kontakt mit einem Virus gekommen, bildet er bei Kontakt mit einer neuen Virusvariante vor allem Antikörper gegen solche Epitope, die bereits auf der ursprünglichen Virusvariante vorhanden waren. Die Reifung naiver B-Zellen, die neue Epitope binden, würde unterdrückt (siehe Kasten).
Über dieses Phänomen diskutieren Forschende bereits seit Jahren, zunächst im Zusammenhang mit Influenza, inzwischen auch bei SARS-CoV-2. In einem aktuellen Kommentar in The Lancet Infectious Diseases (2023: DOI: 10.1016/S1473-3099(23)00007-5) stellen sich auch Sebastian Hoehl und Sandra Ciesek vom Universitätsklinikum Frankfurt die Frage: Haben wir eine Erbsünde begangen, indem wir mit dem Spike-Protein einer inzwischen verdrängten SARS-CoV-2-Variante geimpft haben, die fortan unsere Immunreaktion auf Varianten und Impfstoffe der Zukunft hemmen wird, was zu höherer Morbidität und Mortalität führt?
Mit anderen Worten: Ist dies ein Szenario, das wir überwinden müssen, wie ein Team um Markus Hoffmann und Stefan Pöhlmann vom Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen in ihrer jüngsten Korrespondenz in The Lancet Infectious Diseases schlussfolgern (2022; DOI: 10.1016/S1473-3099(22)00792-7)?
Inzwischen liegen auch SARS-CoV-2-Studien zur Antikörperantwort auf die neuen, angepassten Impfstoffe vor, die die Diskussion neu entfachen.
Verschiedene Studien haben die Antikörperantwort des bivalenten Impfstoffs gegen den Wildtyp und den Omikron-Subtyp BA.5 mit der Antikörperantwort durch den ursprünglichen monovalenten Impfstoff verglichen.
Bei allen Untersuchungen zeigte sich, dass die Antikörperantwort gegen die Ursprungsvariante am höchsten war – unabhängig von der Art des Impfstoffs.
Zwei Studien deuten darauf hin, dass ein bivalenter Booster die Antikörperantwort im Vergleich zu dem monovalenten Booster nicht verbessert.
So zeigte sich in der im Januar 2023 publizierten Untersuchung der Columbia University in New York City und der University of Michigan, Ann Arbor, etwa 3,5 Wochen nach der Gabe beider Impfstoffe kein signifikanter Unterschied in der neutralisierenden Wirkung gegen verschiedene SARS-CoV-2-Varianten – auch nicht gegen BA.5 (NEJM 2023, DOI: 10.1056/NEJMc2213907).
Forschende vom Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston kommen zu einem vergleichbaren Ergebnis. Sie fanden zwar einen moderaten, aber nicht signifikanten Anstieg der Antikörperantwort gegen BA.5 um den Faktor 1,3 durch den bivalenten Impfstoff im Vergleich zum monovalenten Impfstoff (NEJM 2023, DOI: 10.1056/NEJMc2213948). Die T-Zellantwort wurde durch beide Impfstoffe nicht wesentlich verstärkt. Über beide Studien hat das Deutsche Ärzteblatt berichtet.
Abweichende Schlussfolgerungen bezüglich Immune Imprinting
Beide Autorenteams gehen davon aus, dass der nur gering höhere Effekt des bivalenten Impfstoffs im Vergleich zum monovalenten Impfstoff auf ein mögliches Immune Imprinting hindeuten könnte.
Dem widerspricht jedoch Leif-Erik Sander von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité in Berlin. Denn im Vergleich zum mono- und bivalenten Booster führte eine Durchbruchinfektion mit BA.5 in der NEJM-Studie der Columbia University sehr wohl zu einer deutlich verbesserten Neutralisation gegen diese Variante.
„Das spricht für mich gegen die Originalantigensünde als Problem,“ erläuterte Sander die Ergebnisse der bereits im Oktober 2022 als Preprint erschienen Studie auf Twitter. Eventuell sei eine geringe Dosierung des adaptierten BA.5-Anteils beziehungsweise die bivalente Formulierung mit dem Wildtyp nicht ideal, spekulierte der Charité-Impfstoffforscher.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte die Ergebnisse der Preprints ebenfalls schon im Oktober 2022 auf Twitter kommentiert: „Wenn sich die Ergebnisse aber bestätigen, sind den Varianten-angepassten Impfstoffen Grenzen gesetzt. Zumindest in Bezug auf den Infektionsschutz.“
Auch Ergebnisse einer im Sommer 2022 in Science erschienenen Studie (DOI: 10.1126/science.abq1841) könnten für das Auftreten eines Immune Imprintings sprechen. Die viel diskutierte Studie zeigte unter anderem, dass eine Infektion mit der Wuhanvariante vor einer Impfung, eine Boosterung des Immunsystems (Antikörper- und T-Zellantwort) nach 3 Impfungen (mRNA-Vakzin) und anschließender Omikroninfektion verhinderte. Dabei seien die Antikörperspiegel bei den zuvor mit der Wuhanvariante Infizierten „niedriger als solche, die nicht vorher infiziert waren, dann 3-mal geimpft und dann mit Omikron infiziert waren,“ erläuterte Sander im Coronavirus-Podcast des Norddeutschen Rundfunks.
Für die Autorinnen und Autoren war dies ein deutlicher Hinweis auf eine Antigenerbsünde, „weil dieser allererste Viruskontakt, der muss das Immunsystem so geprägt haben, dass es vollkommen unflexibel ist und dann nicht mehr reagieren kann“, so Sander weiter. Der Virologe betonte aber die kleinen Gruppengrößen in dieser Studie, auf deren Basis nur schwer ein Effekt herausgearbeitet werden könne – zumal die gleiche Arbeit widersprüchliche Ergebnisse ergeben hätte.
Größere Studien zeigen Vorteil des bivalenten Impfstoffs
Andere Untersuchungen unter anderem der Impfstoffhersteller Moderna und Biontech/Pfizer stimmten dagegen zuversichtlicher und zeigten eine etwa 2-6-fach höhere Antikörperantwort gegen BA.5 durch den bivalenten Impfstoff im Vergleich zum monovalenten Impfstoff (Nature Medicine 2022, DOI: 10.1038/s41591-022-02162-x; NEJM 2022, DOI: 10.1056/NEJMc2214293, medrxiv 2022, DOI: 10.1101/2022.12.11.22283166).
Auch gegen andere SARS-CoV-2-Varianten wie beispielsweise gegen XBB.1 erzielte der bivalente Impfstoff höhere Antikörpertiter als der ursprüngliche Impfstoff. Aber auch hier war die Antikörperantwort in allen Kohorten gegen die Ursprungsvariante am höchsten. Das Deutsche Ärzteblatt hat berichtet.
Hinzu kommt, dass die Food and Drug Administration (FDA) die Studienkohorten der beiden Studien, deren Ergebnisse auf ein Immune Imprinting hinweisen, laut CNBC als zu klein bewertet hatte, um daraus endgültige Schlussfolgerungen über die Booster treffen zu können.
Die Forschenden der Columbia University hatten 21 und das Team vom Beth Israel Deaconess Medical Center 18 Personen untersucht, die den bivalenten Impfstoff erhalten hatten. Bei beiden Impfstoffherstellern waren die Kohorten größer: Moderna hatte 511 und Pfizer 74 Personen untersucht, die den neuen Booster erhalten hatten.
Vor Kurzem haben sich FDA-Berater für eine jährliche COVID-19-Impfung ausgesprochen, das Deutsche Ärzteblatt berichtete. Demnach sollte die Mehrheit der US-Amerikaner eine jährliche Auffrischung erhalten. Eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) für jährliche COVID-19-Impfungen hierzulande gibt es bislang nicht.
Das Deutsche Ärzteblatt hat Forschende gebeten, den aktuellen Stand der Wissenschaft zur Originalantigen-Sünde zu kommentieren und den Einfluss auf künftige Impfstrategien einzuordnen.
„Für die T-Zell-Antwort gilt durchaus: Mehr ist bis zu einem gewissen Maße auch mehr.“
Julian Schulze zur Wiesch, Leitender Oberarzt der Sektion Infektiologie und Leiter des Ambulanzzentrums Virushepatologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

„Studien belegen klar den Zusatznutzen der Booster-Impfung mit den angepassten COVID-19-Impfstoffen für Risikopopulationen. Hier ist es wichtig, gerade bei älteren Mitmenschen oder Personen mit Risikofaktoren Impflücken zu schließen.
Langfristig müssen wir bei einem zunehmenden endemischen Geschehen allgemeine Impfempfehlungen für die nächste Wintersaison und die nächsten Jahre entwickeln. Da vermehrt Infektionen und Reinfektionen und somit Antigenkontakte gar nicht erfasst werden, wird es schwer sein, eine solche Empfehlung zu formulieren. Studien können aktuell noch nicht belegen, ob eine 3- oder 4-malige Impfung beziehungsweise eine COVID-19-Infektion (zusätzlich zur oder ohne Impfung) schon ausreichend für eine langjährige Grundimmunisierung sind – gerade bei jungen Menschen.
„Antigenic sin“ und Imprinting sind immunologische Konzepte, welche sicherlich gerade in der Grundlagenimmunologie von essenzieller Bedeutung sind. In der klinischen Medizin ist die Originalantigen-Sünde hingegen nur in Sonderfällen wie Dengue-Infektionen bewiesenermaßen relevant. Für COVID-19 hingegen ist die klinische Relevanz der OAS aus meiner Sicht noch nicht abschließend geklärt (Journal of Clinical Investigation 2023; DOI: 10.1172/JCI162192).
Bei der derzeitigen Diskussion über COVID-19-Impfstrategien führt die OAS daher eher zu Missverständnissen. Mehr berücksichtigt werden sollte hingegen die T-Zell-Antwort, bei der die Originalantigen-Sünde weniger eine Rolle spielt. Und für die T-Zell-Antwort gilt durchaus: Mehr ist bis zu einem gewissen Maße auch mehr, wie wir in einer Studie zeigen konnten (Clinical & Translational Immunology 2022; DOI: 10.1002/cti2.1410).
Die COVID-19 spezifische T-Zell-Antwort nach Impfung ist so breit, dass die Kreuzreaktivität gegeben ist und auch neue Varianten erkannt werden – mit anderen Worten: Das Virus kann selbst mit neuen Varianten nicht vollständig der T-Zell-Antwort entkommen. Diese T-Zell-Antwort kann durch jährliche Boosterung wieder verstärkt werden.
Eine mögliche Schädlichkeit von zu häufigen Impfungen sehe ich bei den aktuell geplanten Impfschemata als eher theoretisch an. Mit den vom RKI empfohlenen Impfschemata ist keine Erschöpfung der Immunantwort zu erwarten. Ebenso gibt es keinen Anlass, vor der jährlichen Grippeimpfung zu warnen. Im Umkehrschluss hätten auch Personen mit mehrmaligen COVID19-Infektionen ein Imprinting zu befürchten.
Hilfreich könnte es sein, Tests zu entwickeln, die die Immunität oder eine Notwendigkeit für eine weitere Booster-Impfung bei neuen Varianten besser einschätzen können. Vielleicht wird es sogar notwendig sein, weitere COVID-19-Impfstoffe gegen weitere Varianten zuzulassen.“
„Diese Ergebnisse sprechen für die Originalantigen-Sünde, die die weitere Anpassung an Varianten erschwert, wenn die Antikörper das Original noch erkennen.“
Andreas Radbruch, Wissenschaftlicher Direktor, Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin; Professor für Experimentelle Rheumatologie, Genetik und Immunologie

„Immune Imprinting ist ein prinzipielles immunologisches Phänomen. Das Immunsystem schützt den Körper vor immer weiteren oder chronischen Immunreaktionen. Bei einer Reaktivierung des immunologischen Gedächtnisses werden zuerst die in einer vorherigen Immunreaktion gebildeten Gedächtnis-B-Lymphozyten direkt (re)aktiviert. Bei dieser extrafollikulären Reaktivierung entwickeln sich Gedächtnis-B-Lymphozyten zu Antikörper-sezernierenden Plasmazellen.
Auch die Affinitätsreifung neuer B-Zellen in einer follikulären Keimzentrumsreaktion ist möglich, das heißt eine Anpassung an einen angepassten Impfstoff. Das braucht jedoch etwas mehr Zeit (bioRxiv 2022, DOI: 10.1101/2022.09.22.509040). Die Frage ist, wie stark der Effekt ist, und ob er durch eine starke Prägung auf das Originalantigen gehemmt wird.
Denn schon vorhandene Antikörper des humoralen Antikörpergedächtnisses und die schnell gebildeten Antikörper der extrafollikulären Gedächtnisreaktion können das Antigen maskieren und so die angepasste Immunreaktion blockieren, wie ein Preprint der Rockefeller University, New York, mit etwa 50 Teilnehmenden zeigen konnte (Nature 2022 DOI: 10.1038/s41586-022-05609-w.).
Auch im diskutierten Science-Paper beobachteten die Forschenden bei infizierten Geimpften im Vergleich zu nur Geimpften eine Prägung (2022; DOI: 10.1126/science.abq1841). Diese Ergebnisse sprechen für die Originalantigen-Sünde, die eine Anpassung an neue Varianten des Antigens erschwert, wenn viele präexistierende Antikörper und Gedächtnis-B-Lymphozyten die Varianten noch erkennen. Die Antikörper müssen dabei nicht notwendigerweise neutralisierend sein.
Zusammengefasst: Präexistierende und direkt nach dem Boost gebildete Antikörper, die den Impfstoff erkennen, maskieren das Antigen, schützen vor schwerer Krankheit, aber sie hemmen auch eine weitere Immunreaktion. Ein Argument gegen wiederholtes „blindes“ Boostern.
Die Reaktion wird voraussehbar immer schwächer werden, weil immer mehr Antikörper sie abschwächen. Verändert sich das Pathogen so, dass es von den Antikörpern nicht mehr erkannt wird, wird in neuen Immunreaktionen ein neues immunologisches Gedächtnis aufgebaut. Das ist offenbar bei Influenza so, bei SARS-CoV-2-Varianten jedoch weniger.
Auch bei Influenza ist die Antigenerbsünde zu beobachten, wie eine Studie zeigt (PNAS 2020; DOI: 10.1073/pnas.1920321117). Es würde mich nicht überraschen, wenn die Empfehlungen zur jährlichen Impfung mit angepassten Impfstoffen auch bei Influenza auf den Prüfstand kommen würden.“
„Das Motto „viel hilft viel“ ist bei der Impfung nicht zwingend klug.“
Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Düsseldorf

„Das Motto „viel hilft viel“ ist bei der Impfung nicht zwingend klug. Daher ist es wichtig, die Daten zu Nutzen und Risiken genau anzuschauen.
Es liegen Studien vor, die keinen Vorteil für den adaptierten BA.4/5-Impfstoff gegenüber dem klassischen Impfstoff nahelegen. Das ist nicht ganz überraschend. Auch schon die Daten für den BA.1-Impfstoff hatten gezeigt, dass die Auffrischung mit dem Wildtyp-Impfstoff die Omikron-spezifische Immunität erhöht und der zusätzliche Effekt des bivalenten Impfstoffs eher klein ist (NEJM 2022; DOI: 10.1056/NEJMoa2208343).
Ich würde trotzdem der STIKO-Empfehlung folgen und den angepassten Impfstoff verwenden, wenn eine Auffrischung notwendig sein sollte, da es auch keine Daten gibt, die einen Nachteil zeigen. Wenn eine Auffrischung aktuell laut STIKO nicht vorgesehen ist, sollte man erstmal auf die Impfung verzichten.
Forschende der Rockefeller University, New York, hatten gezeigt, dass durch die Impfung – und weniger durch die Infektion – die B-Zellantwort verbreitert wird (Nature 2022; DOI: 10.1038/s41586-022-04778-y), was zunächst günstig ist und eher gegen Immune Imprinting sprechen würde. Das gilt aber offenbar nur bis zum dritten Antigen-Kontakt, danach ist in einer Folgestudie auch nach Omikron-Infektion der Effekt nicht mehr so klar (JEM 2022; DOI: 10.1084/jem.20221006).
Bei Influenza profitieren wir sehr von der Kreuzreaktivität der Antikörper, das heißt ein Antikörper kann an unterschiedliche Antigene binden. Wir beobachten auch bei SARS insbesondere nach einer Auffrischungsimpfung (egal ob mit monovalentem oder bivalentem Impfstoff) eine Erhöhung der (Kreuz-)Reaktivität gegen Omikron und gehen davon aus, dass sie uns hilft.
Das sind dann aber nicht unbedingt neue Antikörper, die gezielt gegen Omikron gerichtet sind. Es sieht tatsächlich eher so aus, als ob diese Omikron-spezifischen Antikörper auch nach Impfung mit einem bivalenten Impfstoff nicht neu induziert werden, was aus meiner Sicht dafür spricht, dass ein Immune Imprinting hier die Induktion neuer Antikörper limitiert.
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