Ärztetag: Ökonomisches Denken darf nicht im Vordergrund stehen

Hamburg – Medizinische Entscheidungen dürfen nicht von ökonomischen Erwägungen abhängen. Darin herrschte auf dem 119. Deutschen Ärztetag Einigkeit unter den Delegierten. „Wir sind alle einer Meinung: Ethisch verantwortliche Medizin kennt nicht den Verkauf von Kniegelenken, Herzkatheter-Operationen oder Organtransplantationen gegen Bonus“, sagte Hans-Fred Weiser, Präsident des Verbandes der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands (VLK), in einem Gastvortrag am Donnerstag in Hamburg.
Er wies darauf hin, dass die Probleme der Ökonomisierung der Medizin von der Politik hausgemacht seien. Mit der Einführung des pauschalierten Entgeltsystems im Krankenhaus (DRG-System) sei politisch eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens initiiert worden. Wer Wettbewerb als Allheilmittel um jeden Preis wolle, ohne für das Gesundheitssystem sachgerechte Rahmenbedingungen zu schaffen, dürfe sich nicht wundern, wenn sich das System nach betriebswirtschaftlichen Kriterien organisiere, sagte er.
Bereits sechs Prozent der Ärzte in Weiterbildung haben Verträge mit mengenassoziierten Bonusregelungen abgeschlossen
Einer aktuellen Untersuchung der Unternehmensberatung Kienbaum zufolge hätten 97 Prozent der leitenden Krankenhausärzte im Jahr 2015 Verträge mit monetären Anreizen gehabt. 1995 seien es lediglich fünf Prozent gewesen. Die Ökonomisierung sei jedoch nicht allein das Problem der ärztlichen Leitungsebene. Diese habe längst auf alle Klinikärzte durchgegriffen. Einer Kienbaum-Analyse von 2011 zufolge hätten bereits 19 Prozent der Oberärzte, 15 Prozent der Fachärzte und sogar sechs Prozent der Ärzte in Weiterbildung Verträge mit mengenassoziierten Bonusregelungen abgeschlossen.
Überprüfungen und Bewertungen von Zielvereinbarungen durch eine von Bundesärztekammer (BÄK) und VLK gegründete gemeinsame Koordinierungsstelle hatten nach Auskunft der BÄK gezeigt, dass viele Krankenhausträger Arbeitsverträge mit Ärzten abschließen, in denen sie sich zunehmend an Leistungsmengen, Leistungskomplexen oder Messgrößen orientieren.
Dass gerade junge Ärzte am Anfang ihres Berufslebens damit konfrontiert werden, hält Weiser für äußerst bedenklich. „Den jungen Kollegen wird eine gefährliche Sichtweise dargelegt. Weg von den ethischen Aspekten eines Arztberufes hin zur Ökonomie“, sagte er. Da müsse man „sehr viel Sorge haben“. Junge Kollege befänden sich in „extremer Gefahr, in ein Berufsbild Arzt gepresst zu werden“, das dem eigentlichen Berufsbild nicht gerecht werde.
Für die Zukunft hofft der VLK-Präsident darauf, dass gesetzliche Änderungen des § 135c SGB V dazu führen, die Situation zu entschärfen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) ist darin aufgerufen, im Einvernehmen mit der BÄK Empfehlungen zu erarbeiten, die sicherstellen, dass Zielvereinbarungen ausgeschlossen sind, die auf finanzielle Anreize insbesondere für einzelne Leistungen, Mengen, Komplexe oder Messgrößen abstellen.
Formulierungshilfe der DKG für Verträge leitender Krankenhausärzte soll überprüft werden
VLK-Präsident Weiser kündigte auf dem Ärztetag an, die zuständige Koordinierungsstelle wolle die seit dem 1. Januar 2016 gültige Formulierungshilfe der DKG für Verträge leitender Krankenhausärzte zeitnah überprüfen. Er sei „gespannt“, ob die DKG-Führung das neue Gesetz zur Kenntnis genommen habe.
Weiser stellte darüber hinaus klar, dass ein Umsteuern in Krankenhäusern in Bezug auf eine fortschreitende Ökonomisierung dringend erforderlich sei. Entscheidungen leitender Ärzte müssten auf Augenhöhe mit der kaufmännischen Geschäftsführung nach einer sachgerechten Diskussion möglich sein, sagte er. In einer leidenschaftlichen Debatte, die aufzeigte, dass die Ärzteschaft sich nicht grundsätzlich gegen die wirtschaftliche Verwendung vorhandener Mittel sperrt, schlug Andreas Weber eine Art Kontrollinstanz der kaufmännischen Klinikdirektoren vor.
Krankenhäuser sollen Gewinne reinvestieren
„Wir müssen einen Arzt in der Geschäftsführung etablieren, der über dem Krankenhausdirektor steht, die Geschäftsführung kontrolliert und Missbrauchsmöglichkeiten eindämmt“, sagte der Delegierte der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Er forderte zudem einen Paradigmenwechsel von Krankenhäusern hin zu Non-Profit-Unternehmen. Diese müssten Gewinne innerhalb des Gesundheitswesens reinvestieren. Die Gewinnentnahme mancher Konzerne in Höhe zweistelliger Prozentzahlen hält er für „unethisch“. Dies äußerten die Delegierten mehrfach.
Viele Ärztetagsdelegierte forderten zudem, das Thema Ethik stärker in der Weiterbildung zu verankern und jeden Tag in den Alltag einzubringen. „Ärztliche Ethik muss ein Thema der täglichen Auseinandersetzung in OP-Besprechungen, Dienstplanungen und Fortbildungen sein“, sagte Christoph Emminger von der Bayerischen Landesärztekammer. Ebenfalls debattiert wurde, wie die Ärzte auf Anliegen reagieren sollen, die rein ökonomischer Natur sind und Einfluss auf die Patientenversorgung oder Indikationsstellung haben.
Der Deutsche Ärztetag sieht dabei jeden einzelnen Arzt in der Pflicht. Gelten müsse der Grundsatz „Ethik vor Monetik“, hieß es mehrfach. „Chefärzte haben auch Gestaltungsmöglichkeiten und eine Gestaltungspflicht“, erklärte Jens Andrea, Ärztekammer Thüringen. „Revolutionen kommen von unten. Es muss jeder Arzt an seinem Platz den aufrechten Gang erlernen“, betonte Anne Gräfin Vitzthum von Eckstädt, Ärztekammer Baden-Württemberg. „Die größte Gefahr besteht darin, unter ökonomischem Zwang die Indikation zu beugen“, erklärte Joachim Dehnst, Ärztekammer Westfalen-Lippe.
Beispiele, die zeigen, wie die Ökonomisierung auch durch das Stillschweigen von Ärzten begünstigt wird, wurden zahlreich genannt. Wulf Dietrich, Bayerische Landesärztekammer, nannte ein Beispiel, bei dem der Chefarzt einer Kardiologie einen 90-jährigen Herzinfarktpatienten in eine andere Klinik verlegen ließ, um die eigene Mortalitätsstatistik nicht zu belasten. Der Patient wurde wieder zurückverlegt und verstarb nach vier Tagen. Der Chefarzt habe „ohne Druck unmenschlich gehandelt“ und die ökonomischen Vorgaben völlig internalisiert, so Dietrich. Er bemängelte, dass sich kein anderer Arzt gegen die Entscheidung gestellt habe.
Solidarität für die Kollegen gefordert
Matthias Richter-Turtur, ebenfalls von der Bayerischen Landesärztekammer, appellierte an die Ärzteschaft, bei ethischen Fragen Solidarität für Kollegen zu zeigen, die sich gegen rein ökonomische Erwägungen wendeten. Diesen dürfe nicht in den Rücken gefallen werden. „Widerstand“ sieht Heidrun Gitter, Präsidentin der Ärztekammer Bremen, als genau den richtigen Weg an. Rudolf Kaiser, Ärztekammer Westfalen-Lippe, wünschte sich, dass Ärztekammern eine Art Notrufstelle für unter Druck gesetzte Mediziner und deren Sorgen einrichten sollten.
Politik kann nicht behaupten, sie habe nichts von den Fehlentwicklungen gewusst
Vielfach gefordert wurde, dass die Ärzteschaft sich stärker nach außen positioniert und auf bestehende Missstände hinweist. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin, wies darauf hin, dass BÄK und VLK sich seit 1994 konsequent gegen das DRG-System und seine Nebenwirkungen gestellt hätten. Die Politik könne daher nicht behaupten, sie habe nichts von den Fehlentwicklungen gewusst. Jonitz forderte, sich stärker in die Politik einzumischen. Josef Mischo, Präsident der Ärztekammer des Saarlands, mahnte einen gesellschaftlichen Diskurs an. Die „unheilvolle Tendenz“ zur Ökonomisierung beträfe nicht nur den stationären Sektor, sondern alle Bereiche der Medizin und das gesamte Gesundheitswesen.
Die Delegierten des 119. Deutschen Ärztetags verabschiedeten letztlich einstimmig bei einer Enthaltung einen Entschließungsantrag zur Ökonomisierung in der Medizin. Darin wird klargestellt, dass der Ärztetag Ökonomisierung dann ablehnt, „wenn betriebswirtschaftliche Parameter individuelle und institutionelle Ziele ärztlichen Handelns definieren, ohne dass es eine medizinische Begründung gibt, die sich am Patientenwohl orientiert“.
Ökonomisches Denken darf nicht im Vordergrund stehen
Im Konfliktfall müssten ärztlich-medizinische Gesichtspunkte „immer vorgehen“. Die Delegierten machten auch deutlich, dass medizinische und ökonomische Ziele nicht zwangsläufig einen Gegensatz darstellen müssten. Wenn jedoch ökonomisches Denken Zielen wie Gewinnmaximierung oder Rentabilitätsorientierung Vorrang gewähre, widerspreche das dem Berufsethos.
Der Ärztetag forderte die Krankenhausträger zudem dazu auf, von vorrangig an ökonomischen Kriterien orientierten Bonuszahlungen für leitende Krankenhausärzte abzusehen. Anderenfalls sei der Gesetzgeber aufgerufen, derartige Entwicklungen zu verhindern. Deutsche Ärztetage hatte in der Vergangenheit wiederholt vor erfolgsabhängigen Bonuszahlungen gewarnt, weil diese Ärzte veranlassen könnten, Leistungseinschränkungen oder -ausweitungen zu erwägen.
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