Anteil der schweren Adipositas in Deutschland nimmt zu

Berlin – Die Ergebnisse des neu erschienenen "Weißbuchs Adipositas" seien besorgniserregend, erklärte heute Hans-Holger Bleß, Autor und Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES Institut. Zwar habe die Prävalenz von Übergewicht in den letzten Dekaden abgenommen. Sowohl bei Männern, als auch bei Frauen nimmt jedoch der Anteil schwerer Adipositas überproportional zu. Die Ursachen für diese Entwicklung finden sich in Mängeln an allen Stellen der Versorgungskette – in der Gesellschaft, der Politik wie in der Ärzteschaft.

Der Anteil der Männer mit schwerer Adipositas (Grad II) ist in den Jahren von 1999 bis 2013 um etwa 157 % gestiegen, bei den Frauen waren es 60 %. Die morbide Adipositas (Grad III) zeigte im gleichen Zeitraum bei Männern eine Zunahme von 144 % und für Frauen von etwa 102 %. Insgesamt ist jeder vierte Erwachsene in Deutschland adipös, das heißt, der Body-Mass-Index (BMI) liegt über 30 kg/m2. Seit den 80er- und 90er-Jahren hat sich der Anteil adipöser Kinder und Jugendlicher auf eine Prävalenz von 6 % verdreifacht.
Seit 2004 ist bei ihnen laut Weißbuch jedoch wieder ein leichter Rückgang bis 2008 zu verzeichnen. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland somit an neunter Stelle der OECD-Staaten. Angeführt wird die Statistik von Erwachsenen in den USA mit einer Prävalenz von 36 % und Kindern und Jugendlichen mit 13,5 %.

Es bestehen erhebliche Versorgungslücken
Behandlungsdefizite sehen die Weißbuch-Experten entlang der gesamten Versorgungskette. „Die Adipositas wird noch nicht als Krankheitsbild akzeptiert - weder von Betroffenen noch von Ärzten", so Bleß. Beides verhindere häufig einen Therapiebeginn. „In der hausärztlichen Versorgung gibt es zudem relativ wenig Wissen über die Therapie", kritisiert der Mit-Autor des Weißbuchs.
Teilweise liege das an fehlenden Strukturen. In Deutschland existiere kein flächendeckendes Angebot an spezialisierten Ärzten und qualifizierten Gewichtsreduktionsprogrammen, deren Kosten die Krankenkassen ohnehin lediglich anteilig übernehmen. Obwohl eine S3-Leitlinie zur Behandlung von Adipositas vorliegt, bildet der Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherungen diese Empfehlungen nicht durchgehend ab. Eine qualifizierte Ernährungstherapie durch Diätfachkräfte ist beispielsweise kein Bestandteil des Heilmittelkatalogs. Die Kassen übernehmen die Kosten daher nur auf Antrag im Einzelfall. Auch Kosten für Operationen tragen die Krankenkassen nur nach Einzelfallprüfung.
„Dabei ist ein bariatrischer Eingriff derzeit der einzige evidenzbasierte Therapieansatz bei schwerer Adipositas", sagt Matthias Blüher, Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft vom Universitätsklinikum Leipzig. Vor allem bei übergewichtigen Menschen mit Diabetes Typ 2 zeigt ein solcher Eingriff deutliche Vorteile gegenüber konventionellen Maßnahmen. Noch zwei Jahre nach der Operation beträgt der Gewichtsverlust 23,4 % verglichen mit einem relativ stabilen Gewicht nach einer konventionellen Therapie.

Chirurgische Eingriffe zeigen langfristig auch einen Kosten-Nutzenvorteil, ergänzt Bleß. Der Nutzen für die bariatrische Therapie gemessen in QALY (Quality Adjusted-Life-Year) ist mit 8,29 deutlich höher als der Nutzen der konventionellen Therapie mit 5,69, sowie keiner Therapie mit 5,67.
8,8 bariatrische Eingriffe pro 100.000 Einwohner führen Chirurgen in Deutschland durch. „Im internationalen Vergleich ist diese Zahl ungewöhnlich niedrig", so Bleß. In Schweden wurden im Jahr 2013 beispielsweise 77,9 bariatrische Operationen durchgeführt und in Belgien 107,2 pro 100.000 Einwohner.
Ein einmaliger chirurgischer Eingriff könne aber eine konservative, multimodale Therapie bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie nicht ersetzen, betont Blüher.
Neue Anreize schaffen
Die Behandlungsleitlinien müssten konsequenter umgesetzt werden. „Dies gelingt nur, wenn Krankenkassen die Kosten für medizinisch begründete Therapien übernehmen", so Blüher. Ein anderer Lösungsansatz sei eine geregelte Kostenübernahme von Behandlungsprogrammen mit nachweislich positiver Wirkung, wie sie Krankenkassen bereits im Rahmen der integrierten Versorgung anbieten, erläutert Bleß.
Dietrich Monstadt, Mitglied des Bundestagesausschusses für Gesundheit (CDU/CSU-Fraktion) will sich für eine Nationale Adipositas-Strategie einsetzten. Es müssten neue ressortübergreifende Anreize gesetzt werden, um gesundes Verhalten zu fördern – notfalls auch mit einer Zucker-Fett-Steuer.
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