Gesundheit

Bildung macht kurzsichtig

  • Donnerstag, 21. Juni 2018

„Lesen bei schlechtem Licht verdirbt die Augen“, sagt der Volksmund und liegt damit vermutlich knapp daneben. Die geringe Lichtstärke beim Lesen oder heute eher beim Betrachten elektronischer Geräte ist vermutlich nicht der Grund, warum die Zahl der kurzsichtigen Kinder immer weiter zunimmt. Das ständige Fokussieren der Augen auf eine kurze Distanz, wie es beim Lesen und bei Bildschirmtätigkeiten auftritt, könnte jedoch dazu führen, dass durch eine Verlängerung des Bulbus schon bald eine Fern­sicht nicht mehr möglich ist.

Der Zusammenhang zwischen Lese- und Lernzeiten und der Myopie ist durch zahllose epidemiologische Studien belegt. Den endgültigen Beweis liefert jetzt eine Unter­suchung, die die Methode der Mendelschen Randomisierung zur Beweisführung nutzt.

Die Mendelschen Gesetze besagen, dass Gene nach dem Zufallsprinzip auf die nächste Generation verteilt werden. Dies ist mit einer Randomisierung in einer klinischen Studie vergleichbar. Äußere Faktoren spielen bei der Vererbung keine Rolle. Die Bildung der Eltern hat keinen Einfluss darauf, wie die Gene bei der Fortpflanzung verteilt werden. Kinder, die aus genetischen Gründen ein erhöhtes Risiko für eine Kurzsichtigkeit haben, sollten deshalb im Durchschnitt den gleichen Bildungsstand haben wie Kinder, die genetisch nicht vorbelastet sind.

Dass dies nicht so ist, hat jetzt ein Team um Denize Atan von der Universität Bristol in einer Mendelschen Randomisierung gezeigt. Kinder mit einem erhöhten genetischen Risiko zur Kurzsichtigkeit hatten einen höheren Bildungsstand. Auch anders herum gab es eine Assoziation. Die Bildung, die ein Mensch erreichen kann, wird ebenfalls von den Genen beeinflusst. Nach den Mendelschen Gesetzen sollten Kinder, deren Genvarianten mit einem höheren Bildungsstand assoziiert sind, nicht häufiger kurzsichtig sein als Kinder, deren intellektuelle Fähigkeiten aus genetischen Gründen geringer sind. Doch auch hier bestand ein Zusammenhang.

Da es unwahrscheinlich ist, dass Kurzsichtigkeit zu vermehrter Bildung führt (die Versorgung mit Brillen sollte verhindern, dass kurzsichtigen Kindern nur die Möglichkeit zum Lesen bleibt), dürfte das Lesen für die Kurzsichtigkeit verantwortlich sein.

Das lässt sich auch biologisch plausibel erklären. Kinder, die von frühen Jahren an ihre Augen nur zum Betrachten naher Gegenstände benutzen, verlieren die Fähigkeit, Gegenstände im Fernen scharf zu sehen.

Die Korrelation war linear: Jedes Jahr zusätzlicher Bildung führte zu einem Verlust von 0,18 Dioptrien (95-Prozent-Konfidenzintervall 0,17 bis 0,19). Mit den Jahren werden die Brillengläser immer dicker.

Interessant ist der Vergleich zwischen asiatischen und europäischen Ländern. In Ostasien sind heute 50 Prozent der Kinder nach dem Ende der Grundschule kurzsichtig, in England sind es nur zehn Prozent. Das ist keine „genetische Schwäche“ von Menschen ostasiatischer Herkunft: Auch in Kambodscha, wo das Bildungswesen noch unterentwickelt ist, sind nur weniger Kinder kurzsichtig.

Die frühe Einschulung und die langen Unterrichtszeiten (die für das Erlernen der Schriftzeichen notwendig sind) scheinen die Entwicklung der Kurzsichtigkeit in Asien zu fördern. Aber auch die Aktivitäten in der Freizeit spielen offenbar eine Rolle. In den Städten, in denen die Kinder eher in den Häusern bleiben, gibt es mehr kurzsichtige Kinder. Auch religiöse Bräuche haben einen Einfluss. Bei orthodoxen Juden, wo die Jungen in der frühen Kindheit mit Torastudien beginnen, sind Mädchen seltener kurzsichtig. Eine Gegenmaßnahme könnten längere Freizeiten sein, die die Kinder dann aber im Freien verbringen. In Taiwan gibt es bereits entsprechende Schulprojekte.

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