Corona: Übersterblichkeit vor allem in Ländern mit mittleren Einkommen

Genf – Die Übersterblichkeit weltweit lag nach einer Auswertung in den ersten beiden Jahren der Coronapandemie 2020 und 2021 deutlich höher als die offiziell gemeldeten COVID-19-Todeszahlen. Vor allem in Ländern mit mittleren Einkommen war die Diskrepanz groß, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Fachzeitschrift Nature (2022, DOI: 10.1038/s41586-022-05522-2) berichtet.
Weltweit starben demnach in den beiden Jahren rund 14,83 Millionen Menschen mehr als ohne die Pandemie zu erwarten gewesen wäre. Die WHO hatte im Mai schon einmal von 14,9 Millionen zusätzlichen Todesfällen berichtet. Sie verfeinerte die Analyse nun für die Veröffentlichung in Nature.
Für Deutschland berechnete das WHO-Datenanalyseteam die ursprüngliche Schätzung neu und kam zu dem Schluss, dass es in den beiden Jahren eine Übersterblichkeit von 122.000 – und nicht von 195.000 – gab. Eine Studie der Universität Duisburg-Essen hatte für 2020 auch die demografische Entwicklung berücksichtigt und kam zu dem Schluss, dass ein Teil der zusätzlichen Todesfälle auf die wachsende Zahl der Über-80-Jährigen zurückzuführen sei.
Zu den Angaben der Übersterblichkeit in den einzelnen Länder meint Christoph Rothe, Lehrstuhl für Statistik, Universität Mannheim, dass diese Werte auf einem statistischen Verfahren beruhen, „das leider recht stark durch zufällige Schwankungen in den Sterbezahlen vor der Pandemie beeinflusst werden kann.“ So käme der ursprünglich hohe und nicht plausible Wert von 195.000 zusätzlichen Todesfällen für Deutschland zustande.
„Die Autoren der Studie verwenden deshalb für Deutschland eine separate Ad-hoc-Berechnung, die mit 122.000 zusätzlichen Todesfällen in den Jahren 2020 und 2021 aber noch immer deutlich über den verlässlicheren Schätzungen des Statistischen Bundesamts von etwa 70.000 Fällen, und der aus Studien von De Nicola, Kauermann und Höhle von etwa 35.000 Fällen, liegt.“
Besonders betroffen von hoher Übersterblichkeit waren Länder mit mittleren Einkommen in Südamerika, wie die WHO in Nature berichtet. Peru habe fast doppelt so viele Todesfälle gehabt wie zu erwarten gewesen wäre. In Mexiko, Bolivien und Ecuador habe die Zahl um 50 Prozent höher gelegen.
Bezogen auf die Übersterblichkeit in Peru gibt Hanno Ulmer, Sektion Medizinische Statistik und Informatik, Medizinische Universität Innsbruck, aber zu bedenken, dass es dort offenbar während der Pandemiejahre zusätzlich zu starken Denguefieber-Ausbrüchen gekommen sei.
In ärmeren Ländern ist die Übersterblichkeit laut der WHO-Analyse nicht so hoch gewesen, weil die Bevölkerung dort in der Regel jünger ist und daher weniger Menschen an COVID-19 starben.
Weltweit betrachtet lag die Übersterblichkeit demnach mehr als zweieinhalb mal so hoch wie die gemeldeten COVID-19-Todesfälle allein es hätten vermuten lassen: Ende 2021 zeigte die WHO-Statistik 5,4 Millionen COVID-19-Tote.
Die nun veröffentlichte Zahl von 14,83 Millionen umfasst allerdings auch Todesfälle, bei denen die Todesursache nicht richtig angegeben war, solche von vermutlich infizierten, aber nicht getesteten Patienten sowie Todesfälle von Menschen mit Krankheiten oder Verletzungen, die wegen der Überlastung der Gesundheitssysteme nicht rechtzeitig behandelt werden konnten.
In einem Kommentar von Enrique Acosta vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Nature heißt es, dass die Zahlen mit Vorsicht zu betrachten seien, weil es nur bei 37 Prozent der Länder eine monatliche Statistik mit allen Todesfällen gegeben habe. 43 Prozent der Länder hätten gar keine Zahlen vorlegt. Deshalb mussten die Statistiker Annahmen machen, die nach Einschätzung von Acosta teils problematisch sind.
Auch Rothe zufolge ist die Berechnung einer globalen Übersterblichkeit vor allem deshalb kompliziert, weil es für viele Länder keine verlässlichen Daten zu Sterbefällen vor und während der Pandemie gibt. „Die Autoren schätzen diese Werte daher mithilfe statistischer Verfahren aus den Daten vergleichbarer Länder mit besserer Informationsbasis. Die sich aus dem Verfahren ergebende globale Übersterblichkeit von etwa 14,8 Millionen Todesfällen in den Jahren 2020 und 2021 ist daher mit einer gewissen Unsicherheit verbunden, sollte aber von der richtigen Größenordnung sein.“
Jonas Schöley, der ebenso wie Acosta am MPIDR arbeitet, sieht die Zuverlässigkeit der Daten ebenfalls kritisch. Aber „die WHO geht mit diesen Unsicherheiten in der Schätzung transparent um und veröffentlicht Unsicherheitsintervalle um die geschätzte Übersterblichkeit und im Ranking verschiedener Länder.“
„Die durch COVID-19 verursachte Übersterblichkeit ist in ihrer Höhe und in ihrem globalen Ausmaß einzigartig in den letzten 70 Jahren," so Schöley weiter. Dies ließe sich auch an Rückgängen in der Periodenlebenserwartung für die Jahre 2020/21 sehen, „die in solch einem Ausmaß wie seit Februar 2020, zumindest für Westeuropa und die USA, in der Nachkriegszeit nicht beobachtet wurde.“
Ulmer zieht folgendes Fazit: „Letztlich würde ich die vorliegende Arbeit nicht unbedingt als Schätzung zu den COVID-19-Toten sehen, sondern als Arbeit zur Übersterblichkeit in den Pandemiejahren 2020 und 2021. Ein kleiner, aber feiner Unterschied, der ja nach Land und Region stark variieren kann.“
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