Medizin

COVID-19 könnte Bereitschaft zum Verzicht auf Reanimation erhöht haben

  • Donnerstag, 28. Juli 2022
/Rea, stock.adobe.com
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Twickenham/London – Die COVID-19-Pandemie könnte unter Ärzten möglicherweise zu einer größeren Be­reit­schaft geführt haben, bei sehr kranken oder gebrechlichen Patienten auf Reanimationsmaßnahmen zu verzichten.

Zudem verlegten sie Patienten am Lebensende weniger häufig noch auf die Intensivstation, sondern ent­schie­den sich eher für eine frühe Palliativversorgung. Dies zeigt eine Onlineumfrage unter Ärzten in Großbritan­ni­en, deren Ergebnisse jetzt im Journal of Medical Ethics veröffentlicht worden sind (2022, DOI: 10.1136/medethics-2022-108268).

Die COVID-19-Pandemie habe in vielen Bereichen der klinischen Medizin einen Wandel mit sich gebracht, auch was die Versorgung am Lebensende angehe, schreiben Benjamin Kah Wai Chang von der St Mary's Uni­versity in Twickenham und Pia Matthews vom Royal Free London NHS Foundation Trust in London.

Sie wollten deshalb herausfinden, ob sich auch die Art, wie Ärzte am Lebensende eines Patienten Entschei­dun­gen treffen, verändert hat, insbesondere hinsichtlich kardiopulmonaler Reanimation und Therapieeskala­tion zur Intensivmedizin.

Diskussion um Reanimation und Intensivkapazitäten in der Pandemie

Diese beiden Bereiche standen in der Pandemie besonders in der Diskussion: Immer wieder mussten Ärzte ent­scheiden, ob bei einem COVID-19-Patienten mit Herzstillstand noch eine Reanimation durchgeführt wer­den sollte. Und die Sorge, dass die Intensivkapazitäten nicht für die in die Höhe schießenden Zahlen an Pa­tienten mit schwerer COVID-19-Erkrankung ausreichen würden, war allgegenwärtig.

An der Onlineumfrage konnten von Mai bis August 2021 Ärzte aller Ausbildungsstufen und Fachgebiete teil­nehmen. In diesem Zeitraum befanden sich die Hospitalisierungen aufgrund von COVID-19 im Vereinigten Königreich auf relativ niedrigem Niveau.

Insgesamt nahmen 231 Ärzte teil: 14 Ärzte im 1. Ausbildungsjahr (6,5 %), 146 Ärzte in späteren Ausbildungs­jahren (63 %), 42 Ärzte in Facharztausbildung (18 %) und 24 Fachärzte (10,5 %) sowie 4 andere Ärzte (2 %).

Pandemie hat Reanimationsbereitschaft verändert

Mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer gaben an, jetzt eher bereit zu sein, bei einem Herzstillstand oder Atemversagen auf eine kardiopulmonale Reanimation zu verzichten als vor der Pandemie. Insgesamt 41,5 % gaben an, dazu „etwas mehr bereit“ zu sein und 13 % gaben an, dazu „signifikant mehr bereit“ zu sein.

Auf die Frage nach den Gründen lauteten die häufigsten Antworten: voraussichtliche Vergeblichkeit der Re­ani­mation (88 % vor der Pandemie, 91 % jetzt), Komorbiditäten (89 % vor der Pandemie und jetzt), Wunsch des Patienten (83,5 % vor der Pandemie, 80,5 % jetzt). Ebenfalls häufig genannt wurden Patientenverfügun­gen und die Lebensqualität nach der Reanimation.

Begrenzte Ressourcen spielen heute viel häufiger eine Rolle als vor der Pandemie

Die Zahl der Umfrageteilnehmer, die angaben, dass das Alter des Patienten einer der Hauptgründe für ihre Ent­scheidung darstelle, nahm von 50,5 % vor der Pandemie auf etwa 60 % zu. Und der Anteil, die die Ge­brech­lichkeit des Patienten als Grund nannte, stieg von 15-58 % auf 73 %.

Aber die mit einem Plus von 20 % größte Veränderung des Stimmenanteils war bei der Verfügbarkeit von Res­sourcen zu beobachten: Waren vor der Pandemie nur 2 % bereit, aufgrund begrenzter Ressourcen auf eine Reanimation zu verzichten, waren es zum Zeitpunkt der Umfrage 22,5 %.

Auf die Frage, ob sie Patienten heute weniger schnell auf die Intensivstation schicken bzw. früher zur Pallia­tivversorgung, antworteten die meisten Ärzte, dies sei gleich geblieben oder sie seien sich unsicher (Intensiv­station: 46,2 %; Palliativversorgung: 64,6 %).

Aber eine wahrnehmbare Minderheit sagte, sie hätten jetzt eine höhere Schwelle für die Überweisung auf die Intensivstation (22,5 %) und eine niedrigere Schwelle für die Überweisung zur Palliativversorgung (18,6 %).

Ressourcenknappheit wirkt nach

Chang und Matthews berichten, dass der durch den Druck der Pandemie verursachte Impuls, mehr Patienten nicht mehr zu reanimieren, bei vielen Ärzten auch dann noch vorhanden gewesen sei, als die COVID-19-Fälle in den Krankenhäusern wieder auf ein relativ niedriges Niveau gesunken waren.

Sie betonen aber auch, dass die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Faktoren immer mit den gelten­den ethischen Richtlinien vereinbar gewesen seien – mit Ausnahme der begrenzten Ressourcen.

„Zu Beginn der Pandemie hatte die British Medical Association Ärzten in Großbritannien geraten, im Falle fehlender Ressourcen eine Allokation auf Basis zweckmäßiger Ethik durchzuführen“, so die beiden Autoren.

„Aber unsere Ergebnisse zeigen, dass bei einem signifikanten Teil der Ärzte die verfügbaren Ressourcen bei der klinische Entscheidungsfindung weiterhin eine Rolle spielten, obwohl die Belastung des National Health Service (NHS) wieder auf ein normales Niveau gesunken war“, schrieben sie.

Ob diese Veränderungen erhalten bleiben, ob man wieder zur präpandemischen Praxis zurückkehren werde oder vielleicht noch weitere Veränderungen folgen werden, müsse sich erst noch zeigen müsse, so Chang und Matthews.

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