Die $4-Dollarliste (Teil Zwei) stößt an ihre Grenze
Jüngst kam ein von mir regelmäßig betreuter 41-jähriger Patient in die Praxis für seinen Routinebesuch. Obwohl er auf wirksame Medikamente eingestellt ist – allesamt von der $4-Dollarliste – war sein Blutdruck 195 zu 112. Er gab zu, sie nicht genommen zu haben und nannte Geldmangel als Grund. Das tut er bei jedem Praxisbesuch, und ich hatte in der Vergangenheit geglaubt, dass ein konsequentes Umstellen auf Billigmedikamente das Argument obsolet machen würde. Das war falsch gedacht, denn erneut sagte er mir: „Herr Doktor, ich kann mir die Medikamente nicht leisten, ich muss das Geld für meine 17-jährige Tochter sparen, denn sie erwartet ihr zweites Kind und braucht Unterstützung von mir”.
Wenn man die Geschichte hierbei belassen würde, dann könnte mein Patient mit Präsident Obama wohl im Wahlkampf auftreten. Mein Patient erzählt seine Geschichte nämlich derart routiniert und eloquent, dass man sie gerne als Beispiel nehmen möchte, wie unbezahlbar das US-Gesundheitssystem für arbeitslose, chronisch kranke Menschen wie ihn ist, und wie ungerecht es sei, noch dazu wenn sie, wie er, schwarz sind.
Doch ich hakte dieses Mal nach und ließ mir seine Finanzlage en detail schildern: Seine fünfköpfige Familie leben in einem staatlich bezahlten Haus. Ihre Krankenversicherung ist Medicaid, also staatlich bezahlt, und seine Medikamentenzuzahlungen bewegen sich meistens im Centbereich. Selbst wenn er die Medikamente aus eigener Tasche bezahlen müsste, wären es wohl zehn bis zwölf Dollar im Monat.
Er ist arbeitslos und erhält entsprechend Arbeitslosengeld in Höhe von knapp $1300 monatlich, 99 Wochen lang, danach staatliche Unterstützung ähnlich dem deutschen Hartz-IV. Seine Frau erhält ebenfalls Arbeitslosengeld, knapp $900 monatlich. Er erhält noch weitere Kleinigkeiten wie Nahrungskreditkarten (“food stamps”) und Nebenkostenbezuschussung.
Er ist also nicht mittellos wie er es in seiner Eloquenz mir gegenüber jedes Mal darstellt. Das Umstellen auf die $4-Dollarliste war leider nicht die Lösung, es gibt andere Gründe für seine Behandlungsuntreue (“non-compliance”). Doch was machen wenn seine Gesundheit für ihn keine hohe Priorität hat? Einmal schlug ich meinem Oberarzt vor, dass ich ihm eine $20-Dollarnote geben würde; woraufhin mich der Oberarzt fragte, ob ich mir sicher sei, dass er die Medikamente damit kaufen würde.
Es bleibt mir nichts übrig als ihn – vom US-Staat bezahlt – weiterhin in meiner Praxis zu sehen und regelrecht zu bitten, dass er seine Medikamente einnimmt. Ihn darauf aufmerksam zu machen, dass die meisten seiner Erkrankungen reversibel, weil selbst verschuldet sind: Massive Adipositas (KMI von 46), Tabakkonsum, Schlaf-Apnö-Syndrom, Hypertonus, Diabetes, Kardiomyopathie.
In solchen Fällen weiss ich nicht weiter: Höhlt steter Tropfen wirklich den Stein? Was kann man denn noch mehr machen für meinen Patienten? Weiterhin eine moralische Frage: Wie weit sollte eine Gesellschaft gehen, um solch ein Gesundheitsverhalten, solch einen Raubbau an der eigenen Gesundheit, zu bezahlen?
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