Ärzteschaft

„Die Ergebnisse müssen auf jeden Fall interpretiert werden”

  • Dienstag, 23. September 2014

Berlin – Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung sind häufig und nicht per se schlecht. Entsprechende Daten – wie zuletzt von der Bertelsmann Stiftung und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorgelegt – müssen aber sorgfältig interpretiert werden, betont Dominik von Stillfried. Der ZI-Geschäftsführer plädiert auch dafür, einzelne Krankenhäuser oder Praxen über ihren Beitrag zu regionalen Unterschieden zu informieren. Allein der Hinweis auf Unterschiede zwischen Regionen hilft den Akteuren seiner Meinung nach nicht weiter.

Uploaded: 22.03.2012 16:35:00 by mis
Dominik von Stillfried

5 Fragen an… Dr. med. Dominik von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland

DÄ: Wer in Deutschland die Mandeln entfernt haben möchte oder ein neues Kniegelenk eingesetzt, der wird in der einen Region anders behandelt als in der anderen. Hat Sie dieses Ergebnis des jüngsten Faktencheck überrascht?
Von Stillfried: Nein, überhaupt nicht. Formal gelten zwar für die gesetzlich Krankenversicherten überall die gleichen Rahmenvorgaben, die demnach auch eine gleiche Versor­gung erzeugen müssten. Die Versorgungsforschung zeigt aber, dass es in keinem Bereich des Gesundheitswesens, weder ambulant noch stationär, so etwas wie eine einheitliche Versorgung gibt.

DÄ: Finden Sie das besorgniserregend?
Von Stillfried: Die Ergebnisse müssen auf jeden Fall interpretiert werden. Sie können auf mangelnde Qualität hindeuten. Oder auch beinhalten, dass der Grundsatz der Chancengleichheit verletzt wird, wenn etwa sozial schwächere Regionen schlechter versorgt sind als andere. Regionale Unterschiede sind aber nicht per se schlecht. So kann es zum Beispiel Regionen geben, die Vorreiter sind, beispielsweise was den medizinischen Fortschritt angeht. Die würde bestimmt niemand an den Durchschnitt anpassen wollen.

Was mir in der Diskussion nach der Präsentation der Daten von Bertelsmann und OECD aufgefallen ist:  Es fehlten Hinweise auf die Wechselwirkungen zwischen ambulantem und stationärem Bereich. Es gibt ja Regionen, in denen im stationären Bereich scheinbar weniger operiert oder behandelt wird als anderswo. Doch in Wirklichkeit übernimmt dort meist der ambulante Bereich einen größeren Anteil an der Versorgung.  

Außerdem wurde von dem ein oder anderen nach einem Schuldigen gesucht und dabei vor allem auf die Ärzteschaft gezeigt. Ob aber bei regionalen Unterschieden vielleicht strategische Ziele von Krankenhäusern eine Rolle spielen, wurde nicht diskutiert, ebenso wenig, ob eine Klinik Ärzten bestimmte ökonomische Ziele setzt. Spannend wäre es, zum Beispiel zu analysieren, ob das auffällige Ergebnis in einer Region möglicherweise maßgeblich auf eines der dort tätigen Krankenhäuser zurückzuführen ist.

DÄ: Gibt es im ambulanten Bereich einen Zusammenhang zwischen hochwertigen Leitlinien und geringen regionalen Versorgungsunterschieden? Oder ist es nur ein frommer Wunsch, dass Leitlinien zu einer sinnvollen Nivellierung beitragen?
Von Stillfried: Unsere Analysen zur leitliniengerechten Therapie bei Herzinsuffizienz im ambulanten Bereich zeigen, dass es auch da, wo Leitlinienvorgaben existieren, noch große regionale Variationen gibt. Das ist bei anderen Indikationen ähnlich. Generell gilt aber: Wenn hochwertige Leitlinien zur Verfügung stehen, dann hat man die Möglichkeit, mit denjenigen Einrichtungen eine inhaltliche Diskussion zu führen, die von einem plausiblen Wert sehr stark abweichen. Man kann dann klären, ob diese Abweichung vielleicht inhaltlich begründet ist oder ob es gute Gründe gibt, die Einrichtung in Richtung der Leitlinienempfehlungen zu bewegen.

Im ambulanten Bereich kennen wir diese Diskussion aus den Feedback-Berichten zu den Chronikerprogrammen. Darin ist zum Beispiel formuliert, dass jeder Diabetiker einmal im Jahr zum Augenarzt geht. Dieses Ziel  ist als relevant anerkannt, aber nicht in jedem Fall zu erreichen. 

Um auf die Debatte um die Bertelsmann-Daten zurückzukommen: Als über die regionalen Unterschiede bei der Entfernung der Gaumenmandeln diskutiert wurde, kam der Hinweis, dass es für diesen Eingriff keine Leitlinie gibt. In diesem Fall sei dann eben allein die Einschätzung der behandelnden Chirurgen ausschlaggebend. Das kann man kritisieren, aber man kann sich auch die Frage stellen: Wer soll denn sonst in solch einem Fall die Entscheidung treffen? Hier kann die Kenntnis über die unterschiedlichen Eingriffs­häufigkeiten höchstens die lokale Diskussion darüber befördern, warum die eigenen Einschätzungen sich deutlich von denen der anderen Chirurgen unterscheiden.

DÄ: Die OECD hat regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung in 13 Ländern analysiert. Gibt es Vorbilder, wie man regionale Unterschiede klug bewerten und sinnvoll reduzieren kann?
Von Stillfried: Ich habe an einer Tagung teilgenommen, bei der sich Fachleute im Nachgang der Veranstaltung von Bertelsmann und OECD noch einmal mit regionalen Unterschieden befasst haben. Etliche Länder verfolgen einen Ansatz, den wir beim ZI auch schon aufgenommen haben: nämlich zu untersuchen, inwieweit einzelne Einrich­tungen zu einem regionalen Mittelwert beitragen ­und somit eventuell zu einer starken Abweichung im Vergleich zu anderen Regionen. Es nutzt ja wenig festzustellen, dass in Bayern bei einer bestimmten Indikation mehr gemacht wird als in Sachsen-Anhalt oder umgekehrt. Hilfreich wäre es hingegen, denjenigen einen Hinweis zu geben, die durch eine Veränderung ihrer täglichen Praxis zur gewünschten Entwicklung beitragen könnten.  

Nehmen wir ein hypothetisches Beispiel: Ich möchte gern die Impfquote in Berlin steigern, konkret die Grippeimpfung der über 60-Jährigen. Dass im Ostteil von Berlin mehr geimpft wird als im Westteil, kann ich anhand der Daten erkennen – ein erster Hinweis auf eine regionale Besonderheit. Nun gibt es einzelne Praxen im Westen Berlins, die bei der Grippeimpfung der über 60-Jährigen auf sehr gute Quoten kommen – und umgekehrt vermutlich im Ostteil Praxen, die vom Versorgungsziel weit entfernt sind.

Im Idealfall müsste ich als Praxisinhaber erfahren können: Wie sieht das Versorgungsziel für meine Patienten aus? Und wenn ich es  erreiche, was trage ich dann zum Versor­gungsziel für die gesamte Region bei? Konkrete Vergleichsdaten würden mir als nieder­gelassenem Arzt sehr viel stärker weiterhelfen als eine allgemeine Angabe für die Re­gion. Auf die Krankenhäuser lässt sich das übertragen.

DÄ: Wer sollte handeln, damit unerwünschte regionale Unterschiede verschwinden?
Von Stillfried: Dem Gesetz nach können die Krankenkassenverbände mit den Kranken­häusern prospektive Mengenvereinbarungen schließen. Wenn sie der Meinung sind, dass man auf bestimmte Leistungen verzichten kann oder sie nicht in der erbrachten Menge benötigt, müssten sie entsprechende Vereinbarungen treffen. Falls eine Redu­zierung von Leistungen in die prospektiven Mengenvereinbarungen einkalkuliert würde, müssten die Krankenkassen diese natürlich inhaltlich klar begründen können. Solange das nicht erfolgt, darf man auch nicht die regionalen Variationen von Leistungen kritisieren.

Rie

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