Emotionale Misshandlung mehr in den Fokus des Kinderschutzes holen

Berlin – Emotionale Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist der Studienlage zufolge die häufigste Form von Misshandlung weltweit mit den gleichen Folgeschäden wie bei sexueller oder körperlicher Gewalt. Gleichzeitig ist sie im Kinderschutz aber auch am schwierigsten zu erkennen und nachzuweisen.
„Emotionale Misshandlung muss deshalb mehr in den Fokus der Kinderschutzarbeit“, forderte Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) gestern beim Online-Fachtag zu emotionaler Gewalt.
Veranstaltet wurde der Fachtag von der Medizinischen Kinderschutzhotline unter der wissenschaftlichen Leitung von Jörg M. Fegert, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/- psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.
Bei der Kinderschutzhotline berät unter der Telefonnummer 0800/1921000 ein Team aus Ärzten der Fachbereiche Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädiatrie und Rechtsmedizin, Psychotherapeuten, Sozialpädagogen sowie Juristen bundesweit, rund um die Uhr in Fragen des Kinderschutzes. Die Hotline richtet sich an Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen, aus der Kinder- und Jugendhilfe und den Familiengerichten.
„Fragen nach emotionaler Gewalt sind tatsächlich die seltensten Anrufe bei der Medizinischen Kinderschutzhotline“, berichtete Fegert. Auch deshalb solle das Thema mit dem Fachtag mehr in den Fokus der Fachkräfte gebracht werden. „Emotionale Gewalt gefährdet die Entwicklung des betroffenen Kindes massiv; sie wird als schädlichste Form von Misshandlung angesehen und sie nimmt zu“, erklärte er.
Einer Studie von Witt (2019) zufolge habe jeder 10. Erwachsene emotionale Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt. Trete emotionale Gewalt zusammen mit sexueller und/oder körperlicher Gewalt auf, sei das Risiko für Depressionen, Essstörungen und Suizidversuche hoch. Folgen könnten auch für die körperliche Gesundheit entstehen wie Diabetes, Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Unter emotionaler Misshandlung versteht man nicht das einmalige Beschimpfen eines Kindes. „Definiert wird der Begriff als ein sich wiederholendes Verhaltensmuster einer Bezugsperson, die die psychischen Grundbedürfnisse eines Kindes nicht erfüllt oder beschädigt. Dem Kind wird vermittelt, dass es wertlos, ungeliebt, unerwünscht, beschädigt, entbehrlich ist“, erläuterte Vera Clemens, Professorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie in Ulm.
Verschmähen, terrorisieren, ausbeuten, ignorieren, vernachlässigen
Ausgedrückt werde dieses Verhaltensmuster dadurch, dass die Bezugsperson das Kind verschmäht beziehungsweise feindselig ablehnt. Es wird terrorisiert, beispielsweise mit der Androhung Schläge zu bekommen.
Es wird ausgebeutet und korrumpiert, etwa durch die Forderung als Partnerersatz zu dienen oder Drogen mit dem Erwachsenen zu konsumieren. Ignorieren der Bezugsperson und auch Isolieren durch einsperren oder abschneiden von sozialen Kontakten gehören zu psychischen Misshandlungsformen, ebenso die Vernachlässigung der körperlichen Gesundheit des Kindes.
Für die Dimension der Folgeschäden entscheidend ist Clemens zufolge auch das Alter des Kindes, das emotionale Gewalt erleben muss. „Die ersten Lebensjahre sind ganz entscheidend für die Bindung. Eine sichere Bindung gilt als großer Resilienzfaktor für Krisen im Erwachsenenalter, eine unsichere Bindung hingegen birgt das Risiko für psychische Erkrankungen“, erklärte die Kinder- und Jugendpsychiaterin. Emotionale Misshandlung behindere eine gesunde Entwicklung und könne sich zudem sehr stark auf die Hirnentwicklung auswirken.
„Die Jugendämter bearbeiten pro Jahr rund 190.000 Gefährdungsmitteilungen –bei rund 33 % dieser Fälle ist emotionale Gewalt der Hauptgrund“, berichtete Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut. Aus der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe sei das Hauptproblem, dass weder Eltern noch die Kinder und Jugendlichen berichteten, was genau passiere. Letztere auch aus Angst vor den möglichen Konsequenzen, wie einer Inobhutnahme, die auf Kinder potenziell gefährlich wirke.
In der Kinder- und Jugendhilfe dominieren Kindler zufolge bei emotionaler Misshandlung die ambulanten Hilfen, etwa in Form von Beziehungsförderung oder über Reflexionshilfen wie zum Beispiel Biografie-Arbeit mit der Bezugsperson. Müssten entsprechend betroffene Kinder aus der Familie herausgenommen werden, stelle dies besondere Herausforderungen für die Pflegefamilie dar. Gut für die Entwicklung der Kinder sei, wenn es in ihrem Leben Personen gibt, die ihnen wohlgesonnen sind.
„Emotionale Gewalt ist immer noch unterbelichtet in der familiengerichtlichen Praxis“, berichtete Stefan Heilman, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main, aus juristischer Perspektive. Wichtig für die Richter sei die Belegbarkeit aus medizinischer Sicht, etwa in Form von Sachverständigengutachten sowie die Expertise des jeweiligen Jugendamtes oder Verfahrensbeistands. Nichtsdestotrotz erlebe die psychische Dimension auch bei den Familiengerichten inzwischen mehr Aufmerksamkeit, sagte Heilmann.
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