Experten: Vollnarkose ist reversibles Koma
New York – Die Vollnarkose ist nicht, wie viele Patienten und auch Ärzte meinen, eine Art von Schlafzustand. Anästhesiologen deuten sie im New England Journal of Medicine (2010; 363: 2638-2650) vielmehr als ein medikamentös induziertes reversibles Koma.
Drei Jahre lang haben der Anästhesiologe Emery Brown vom Massachusetts General Hospital in Boston, der Schlafforscher Ralph Lydic von der Universität von Michigan in Ann Arbor und der Koma-Experte Nicholas Schiff vom Weill Cornell Medical College in New York an ihrer neuen Interpretation der Allgemeinanästhesie gearbeitet.
Zunächst verglichen die Forscher die Kennzeichen der Allgemeinanästhesie – dies sind Bewusstlosigkeit, Amnesie, fehlende Schmerzempfindung, Bewegungslosigkeit bei stabiler Funktion von Herz und Kreislauf, Atmung und Thermoregulation – mit dem Schlaf und dem Koma. Dabei hätten sie wesentlich mehr Übereinstimmungen mit dem Koma als mit dem Schlafzustand gefunden, berichten sie.
Während der Schlaf eine Abfolge von wiederholten Zyklen mit unterschiedlicher EEG-Aktivität sei, befände sich der Patient unter der Vollnarkose in einem stationären Zustand, der einem Koma sehr ähnlich sei, so die drei Experten.
Auch das Erwachen aus Narkose und Koma hätte zahlreiche Gemeinsamkeiten – allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Narkose innerhalb von wenigen Minuten durch die Unterbrechung der Narkosemittel beendet werden kann, während das Erwachen aus dem Koma sich über Monate oder Jahre hinzieht und derzeit therapeutisch nicht zu beeinflussen ist.
Die Autoren sind sich bewusst, dass die Bezeichnung der Narkose als vorübergehendes Koma zu Irritationen in der Bevölkerung führen kann, die sich lieber in einen Schlaf versenken lassen als in einen Zustand, aus dem sie befürchten müssen, nicht wieder zu erwachen. Was allerdings unbegründet ist. Die moderne Narkose gilt als sicher und hieran ändert auch das neue Konzept nichts.
Falsch wäre es indes anzunehmen, alle Narkosemittel würden einen dämpfenden Einfluss auf das Gehirn haben. Das zur Einleitung der Narkose häufig verwendete Ketamin beispielsweise führt eher zu einer gesteigerten Hirnaktivität. Dies erklärt auch eine mögliche Nebenwirkung: Unter einer niedrigen Dosierung kann es zu (harmlosen und reversiblen) Halluzinationen kommen.
Ketamin blockiert Rezeptoren für den exzitatorischen Neurotransmitter Glutamat. Da es aber eine Präferenz für die Rezeptoren auf inhibitorische Neuronen hat, hat die Blockade dieser Inhibitoren eine Stimulierung der Hirnaktivität zur Folge.
Die dadurch ausgelöste Bewusstlosigkeit vergleichen die Forscher mit dem Zusammenbruch des Internets bei zu hohem Datenverkehr. Ein ähnlicher Mechanismus erkläre auch die Bewusstlosigkeit nach epileptischen Anfällen.
Die in den letzten Jahren gewonnenen neuen Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus der Narkosemittel könnten zu neuen Anwendungsgebieten führen. Die Forscher erwähnen als Beispiel die Behandlung von Depressionen mit Ketamin.
In sehr niedrigen Dosierungen könne das Narkotikum die Symptome der Depression kurzzeitig lindern, vielleicht auf ähnliche Weise wie die Elektroschocktherapie, spekulieren sie. Die Ketaminbehandlung könnte ein Weg sein, um die ersten Tage einer Therapie mit Antidepressiva zu überbrücken, in der viele Patienten eine erhöhte Suizidneigung haben.
Das neue Konzept kann auch erklären, warum es bei einigen Komapatienten nach der Gabe von Zolpidem zu einer vorübergehenden Besserung kommt. Das Schlafmittel Zolpidem blockiert im Globus pallidus einen Regelkreis, der normalerweise den Thalamus inhibiert.
Dies kann nach der Einnahme des Schlafmittels zu einer “paradoxen Exzitation” mit Unruhe, Reizbarkeit und Aggressivität führen. Beim Komapatienten erklärt es vermutlich die vermehrte Aktivität, ohne dass sich daraus Auswirkungen auf den weiteren Verlauf und die Dauer des Komas ergeben.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: