Flucht aus Chicago – die Gewalt nimmt seit zwei Jahren stark zu
Ein Mann Ende 60 bricht am Bahnhof im Westen von Norddakota zusammen und wird ins Krankenhaus gebracht. Zum Glück scheint die Ursache leicht zu beheben, denn der Mann ist seit mehreren Tagen unterwegs und hatte seine Hämodialyse reisebedingt verpasst, wie auch seine Medikamente nicht eingenommen.
Blutdruck sind also erhöht, die Blutsalze etwas durcheinander und der Mann wegen schlechter Ernährung wohl zusätzlich geschwächt, und nach drei Tagen Krankenhausbehandlung scheint er wieder der alte zu sein.
Ich bin sein Krankenhausarzt und gerade in den ersten Tagen unterhalten wir uns recht viel. Er stamme aus Chicago und wohne als Schwarzer in einem eher armen Stadtviertel. Er habe dort eine von der Stadt ihm bezahlte Wohnung, würde dort eine gute Medizinversorgung erhalten, sei seit Jahren an das örtliche Dialysezentrum angebunden und besitze viele Freunde und nette Nachbarn.
Doch er sei weggegangen, regelrecht geflohen, weil immer mehr Menschen auf offener Straße ausgeraubt, angeschossen oder sogar erschossen werden. Er fühle sich angesichts der Zunahme der Gewaltakte nicht mehr sicher und da habe er sich an Norddakota erinnert, wie er einige Sommer lang bei einer Pflegefamilie als Jugendlicher schöne Sommermonate verbracht habe.
Deshalb nehme er diesen langen Weg auf sich, habe einfach alle Habseligkeiten eingepackt und sei mit dem Zug von Chicago aus ins ländliche North Dakota gekommen. Nur sei er eben vor seinem eigentlichen Zielbahnhof zusammengebrochen und so ins Krankenhaus gekommen.
Dieser Mann veranschaulicht eindringlich, was derzeit in den USA passiert: Es gibt einen starken Anstieg von Gewaltkriminalität in vielen Regionen der USA. Die Millionenstadt Chicago ist einer der traurigen Spitzenreiter: Gab es 2012 noch 514 durch Gewalt verursachte Tote, so erlebte sie einen ersten Höhepunkt in den Jahren 2016 (808 Morde, bzw. korrekter ist durch Gewalt Getötete) und 2017 (685 Tote), um dann wieder auf 519 Morde im Jahre 2019 abzusinken.
Doch im Jahr 2020 kam dann das, was in vielen Ländern dieser Welt eintrat: Es wurden zum Teil sehr rigorose und von der Politik bedingte Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus eingeführt.
Es folgte dann das, was man auch im deutschsprachigen Raum kennt: Maskenpflicht, Ausgangsbeschränkungen, Einschränkungen der persönlichen Freiheit, aber auch Arbeitslosigkeit, eine Zunahme von Drogen- und Alkoholkonsum, Zunahme von psychischen Erkrankungen bei gleichzeitiger Einschränkung des Zugangs zur ärztlichen Versorgung und vieles mehr.
Das führte nicht nur zur Gewalt gegen die eigene Person (man denke z.B. an den Anstieg der Selbstmordrate), sondern gerade auch gegen andere, und so erlebte Chicago im Jahr 2020 792 Gewalttote. Das Jahr 2021 scheint einem traurigen Rekord zuzueilen mit mehr als 1.000 Toten. Dass sich die Gewaltdelikte vor allem in bestimmten und dann zumeist ärmeren Vierteln fokussieren, zeigt eine von einer privaten Organisation betriebenen Internetseite.
Abschließende und damit offizielle Zahlen liegen zwar selbst für 2020 noch nicht vor, aber die meisten Experten gehen von einem Anstieg der durch Gewalttaten verstorbenen Menschen von 25-30 % im Vergleich zum Vorjahr aus. Das wären dann etwa 4.000 mehr Tote, wie beispielsweise dieser Zeitungsartikel schreibt.
Da im Jahr 2021 die Coronaregeln gelockert wurden, die Wirtschaft begonnen hat wieder zu wachsen, es wiederholt Geldgeschenke gerade an die ärmere Bevölkerung gab und die Arbeitslosigkeit sinkt, müsste man meinen, dass die Gewaltakte und -tote nun wieder zurückgehen.
Ist Chicago also nur eine Ausnahmeerscheinung? Leider nein, denn die Zahl der Gewalttoten im Jahr 2021 ist in den meisten größeren Städten der USA deutlich angestiegen, gerade in kalifornischen Städten, wie auch den Millionenstädten Houston, New York, Philadelphia, Atlanta, Columbus und eben auch Chicago.
Eine Visualisierung der gegenwärtigen Entwicklung bietet die von der Princeton Universität mitbetriebene und von der Bill & Melinda Gates Stiftung mitfinanzierte Internetseite.
Zurück zum oben beschriebenen Mann: Wir alle im Krankenhaus konnten seine Motivlage gut nachvollziehen, denn die meisten von uns sind sich dieser Zunahme der Gewalt bewusst.
Doch wir sind in einem ländlichen Bundesstaat, der sowieso derzeit zu einem der am schnellsten wachsenden Bundesstaaten der USA gehört mit entsprechend belasteter Infrastruktur.
Es gibt einfach keinen subventionierten Wohnraum derzeit und auch die ambulanten Dialysezentren sind an ihren Kapazitätsgrenzen. Außerdem steht der wirklich kalte, oft unter -30 Grad Celsius gehende Winter, vor der Tür.
Also taten wir das Beste was wir konnten: Wir entließen ihn nach zwei Wochen vergeblicher Unterkunftssuche und Krankenhausaufenthalt in ein Obdachlosenheim, wo er auf einer Matratze in einem überfüllten Gemeinschaftsraum schläft. Zur Dialyse kommt er erst einmal ins Krankenhaus.
Außerdem gaben wir ihm eine Fahrkarte zurück nach Chicago, falls er es sich anders überlegt und lieber zurückkommen will wenn er eine Unterkunft in North Dakota gefunden hat.
Doch trotz dieser widrigen Umstände wollte er nicht in sein Haus und zu seinen Freunden zurückkehren. „Lieber auf einer Matratze im Gemeinschaftsraum in Frieden leben als in meinem Haus mit der stets vorherrschenden Gefahr erschossen zu werden“, das war seine Begründung.
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