Gemeinsame genetische Risiken psychiatrischer Erkrankungen

Boston – Fünf häufige psychiatrische Erkrankungen, die von den Diagnosemanualen heute klar voneinander abgegrenzt werden, teilen sich nichtsdestotrotz mehrere genetische Risikofaktoren, wie jetzt eine genomweite Assoziationsstudie im Lancet (2013; doi: 10.1016/S0140-6736(12)62129-1) ermittelt hat. Zwei Risikogene betreffen Kalziumkanäle in Hirnzellen, die Ansatzpunkt für neue Therapien sein könnten.
Major-Depression, Bipolare Störung, Schizophrenie, Autismusspektrumstörung und das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung werden auch in den bevorstehenden Neuauflagen des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) und der International Classification of Diseases (ICD-11) als abgegrenzte psychiatrische Krankheiten bestehen bleiben, was nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Therapien sinnvoll ist.
Dies schließt allerdings nicht aus, dass es Gemeinsamkeiten in der Anfälligkeit auf die Erkrankungen gibt. Genetiker sprechen von einer Pleiotropie, wenn ein Gen unterschiedliche phänotypische Merkmale hervorruft. Das Psychiatric Genomics Consortium, das seit 2007 in genomweiten Assoziationsstudien nach den genetischen Wurzeln psychiatrischer Erkrankungen sucht, ist beim Genvergleich zwischen 33.332 Patienten und 27.888 Kontrollen jetzt auf vier Risiko-Genorte gestoßen, die im Sinne einer Pleiotropie den Boden aller fünf genannten psychiatrischen Erkrankungen bereiten könnte.
Wie das Team um Jordan Smoller vom Massachusetts General Hospital in Boston mitteilt, befinden sich die Genmarker auf den Chromosomen 3p21 und 10q24. Zwei Gene (CACNA1C und CACNB2) kodieren Bestandteile eines spannungsabhängigen Kalziumkanals, der auch von Hirnzellen gebildet wird. Der Fund ist biologisch plausibel, zumal Kalzium eine wichtige Signalsubstanz für das Wachstum und die Entwicklung von Nerven ist, wie Alessandro Serretti von der Universität Bologna im Editorial schreibt.
Er zitiert Studien, in denen Kalziumantagonisten, die seit längerem zur Behandlung der Hypertonie und kardialer Erkrankungen eingesetzt werden, bei Mäusen eine antidepressive Wirkung erzielten (eine Wirkung bei psychiatrischen Patienten ist dagegen nicht belegt). Für Lithium, ein Standardmedikament zur Behandlung von bipolaren Störungen, werde eine Wirkung auf Kalziumkanäle diskutiert, berichtet Serretti.
Die Studie könnte deshalb das Interesse der Arzneimittelforschung auf die Kalziumkanäle lenken. Dass dabei eine psychiatrische Panazee herauskommt, ist allerdings kaum zu erwarten. Nach dem Konzept der Pleiotropie müssen neben dem gemeinsamen Gen noch weitere und für die einzelnen Erkrankungen unterschiedliche Faktoren hinzukommen, um die Krankheit auszulösen. Es ist kaum vorstellbar, dass sie alle von einem Medikament erfasst werden könnten.
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