Genom-Analyse findet häufig Ursache für geistige Behinderungen im Kindesalter
Vancouver – Angeborene Stoffwechselstörungen führen bei Kindern häufig zu einer geistigen Behinderung. Eine Erbgut-Analyse, die alle Protein-kodierenden Abschnitte des Genoms (Exom) umfasste, hat an einem Zentrum in Kanada bei zwei Dritteln der Patienten eine Ursache ermittelt, die laut dem Bericht im New England Journal of Medicine (2016; doi: 10.1056/NEJMoa1515792) häufig behandelt werden konnte.
Moderne Sequenzierautomaten können das gesamte Erbgut des Menschen innerhalb kurzer Zeit zu einem mittlerweile vertretbaren Preis entschlüsseln. Zu den ersten Anwendungsgebieten gehört die Suche nach den Ursachen von geistigen Entwicklungsstörungen im Kindesalter. Diese lassen häufig eine genetische Ursache vermuten, vor allem wenn Laborwerte oder klinische Zeichen auf eine mögliche Stoffwechselstörung hinweisen.
Ein Team um Clara van Karnebeek vom BC Children's Hospital in Vancouver konnte durch die Kombination aus Exom-Sequenzierung und „tiefer Phänotypisierung“ – gemeint sind genaue klinische und laborchemische Untersuchungen – bei 28 von 41 Kindern (67 Prozent) die genetische Ursache der Erkrankung ermitteln. Bei 18 Kindern hatte die Diagnose Auswirkungen auf die Therapie: Bei vier Kindern erfuhren die Eltern, welche Auslöser sie vermeiden müssen, um die geistige Entwicklung der Kinder zu fördern. Bei drei Kindern wurde aufgrund der Ergebnisse eine Chemo- oder Stammzelltherapie eingeleitet. Fünf Kinder erhalten aufgrund der Ergebnisse heute eine Substitutionstherapie mit 5-Hydroxytryptophan, Levodopa, Carbidopa, Serin oder Folsäure. Bei sieben Kindern wurden Anregungen für eine zielgerichtete Therapie auf zellulärer oder molekularer Ebene gefunden.
Nebenbei wurden zwei bisher unbekannte angeborene Stoffwechselerkrankungen entdeckt. In einem Fall führte eine Missense-Mutation im CA5A-Gen zum Ausfall einer mitochondrialen Karboanhydrase, was die Energieversorgung in den Zellen beeinträchtigt. Zu den Folgen gehörten neben der geistigen Behinderung eine neonatale Hyperammonämie, eine Hyperlaktatämie und eine Hypoglykämie. Eine Behandlung ist durch Gabe von Carglumsäure möglich, schreibt van Karnebeek, deren Arbeitsgruppe das neue Syndrom vor wenigen Tagen in Nature Genetics (2016; doi: 10.1038/ng.3578) vorstellte.
Im zweiten Fall wurde ein bisher unbekannter Gendefekt der N-Acetylneuraminsäure Synthase (NANS) entdeckt. Eine Substitution von Acetylneuraminsäure ist hier laut van Karnebeek ein erfolgversprechender Ansatz. Ein weiteres Kind hatte einen Gendefekt der mitochondrialen Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (GOT2). Hier kam es unter der oralen Substitution mit Serin und Vitamin B6 zu einem gesteigerten Kopfwachstum und verbesserter psychosozialer Entwicklung und einem Rückgang der Krampfanfälle.
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