Genom-Analyse von Isländern weist auf neue Krankheitsgene hin

Reykjavik – Die Firma deCode hat das komplette Genom von 2.636 Isländern entschlüsselt. Die dabei entdeckten 20 Millionen Genvarianten (SNP) wurden dann bei 104.220 Einwohnern gesucht, so dass jetzt genetische Abweichungen für ein Drittel der circa 323.000 Einwohner der Insel bekannt sind. Die Ergebnisse der Artikelserie in Nature Genetics könnten auch für Einwohner anderer Länder in Europa und anderswo interessant sein.
Die meisten Isländer stammen von einer Gruppe von Wikingern ab, die zwischen den Jahren 874 und 930 n. Chr. die Inseln zumeist von Norwegen aus besiedelten. Die Insel blieb bis in die jüngste Gegenwart vom Rest Europas und Nordamerikas weitgehend isoliert. Es gab keine größeren Einwanderungsbewegungen, weshalb das Erbgut der Einwohner relativ homogen ist.
Dies bewog 1996 den isländischen Neurologen Kári Stefánsson die Firma deCode zu gründen, die seither Erbgut-Analysen bei den Einwohnern durchführt. Dies geschieht in der Hoffnung, dass krankheitsstiftende Genmutationen in dem homogenen Erbgut der Isländer leichter entdeckt werden können als in durchmischteren Bevölkerungen, deren Erbgut stärkere Variationen aufweist.
Das Projekt war nicht zuletzt aus Datenschutzgründen umstritten. Die Firma musste zwischenzeitig Konkurs anmelden und gehört heute zum Amgen-Konzern. deCode verfügt heute über Blutproben von einem Drittel der Bevölkerung und viele gewähren der Firma Einblick in ihre Krankenakten und die Stammbäume, die viele Isländer bis in die Landnahmezeit zurückverfolgen können. Der Preisverfall bei der Genomsequenzierung hat es den Wissenschaftlern jetzt ermöglicht, das Erbgut einer größeren Gruppe von Isländern mit einer hohen Genauigkeit zu entschlüsseln. Jeder Abschnitt des Erbguts wurde im Durchschnitt 20 Mal sequenziert.
Die jetzt vorgestellten Ergebnisse zeigen, was angesichts der homogenen Bevölkerung nicht ganz überraschend ist: Viele Isländer sind homozygot für sogenannte Knock-out-Mutationen. Das heißt beide homologen Chromosomen tragen den gleichen Gendefekt, was den kompletten Ausfall der Proteinproduktion zur Folge hat.
Überraschend war die Zahl der Gene, die für das Überleben offenbar nicht erforderlich ist: 1.171 von insgesamt 19.135 Genen des Erbguts, auf denen der Gen-Code für Proteine abgelegt ist. Insgesamt 7,7 Prozent der isländischen Bevölkerung hat mindestens einen solchen Ausfall im Genom. In vielen Fällen mag die Information an einer anderen Stelle des Genoms noch einmal abgelegt sein.
In anderen Fällen bleibt der Ausfall ohne Folgen. Dies ist beispielsweise bei Genen für Geruchsrezeptoren der Fall (etwa 900 im menschlichen Erbgut). Diese Personen können dann bestimmte Dinge nicht mehr riechen, was aber in der heutigen Zeit keine bedrohlichen Folgen hat. Etwa 3 Prozent der Knock-out-Mutationen der Isländer befanden sich auf diesen Genen (Nature Genetics 2015; doi: 10.1038/ng.3243).
Weniger verzichtbar sind Proteine, die für die Funktion des Gehirns wichtig sind. Ihre Gene waren insgesamt seltener von Knock-out-Mutationen betroffen. Es gab aber auch hier Ausfälle mit Krankheitsbedeutung. Ein Beispiel ist ABCA7 (für: ATP-binding cassette transporter A7). Das Gen kodiert einen sogenannten ABC-Transporter, der vor allem Lipide durch Zellmembranen schleust. ABCA7 wird im Gehirn von den Zellen der Mikroglia gebildet, die neben einer Stütz- auch eine Reinigungsfunktion im Gehirn haben.
Sie sollen an der Beseitigung von abgestorbenen Zellen beteiligt sein. Eine Störung dieser Funktion könnte zu vermehrten Ablagerungen von Amyloiden führen und damit die Entwicklung eines Morbus Alzheimer fördern. Die genauen Zusammenhänge sind nicht bekannt, doch die Träger von Knock-out-Mutationen im ABCA7-Gen hatten ein 2,12-fach erhöhtes Risiko auf eine Demenzerkrankung (Nature Genetics 2015; doi: 10.1038/ng.3246).
Insgesamt acht Isländer waren homozygot für eine Knock-out-Mutation im MYL4-Gen. Es enthält die Information für einen Bestandteil von Myosin, einem Bestandteil des kontraktilen Apparates, sprich der „Bewegungsmaschine“ in Muskelzellen. Alle acht Isländer mit Knock-out-Mutation im MYL4-Gen waren frühzeitig an Vorhofflimmern erkrankt, was auf eine besondere Bedeutung des Proteins für die Erregungsleitung im Herzmuskel hinweist. Weitere krankheitsrelevante Mutationen wurden im ABCB4-Gen gefunden, dessen Ausfall häufig zu Leberfunktionsstörungen führt.
Bei einem Ausfall des GNAS-Gens kam es zu erhöhten TSH-Werten (also eine mögliche Überfunktion der Schilddrüse), allerdings nur wenn das von der Mutter geerbte Gen defekt ist. Bei defekten des väterlichen Gens waren die TSH-Werte eher erniedrigt (Nature Genetics 2015; doi:10.1038/ng.3247).
In einer weiteren Arbeit hat das Team um Stefánsson die Mutationsrate in einem Gen auf dem Y-Chromosom berechnet. Zusammen mit Informationen aus den Stammbäumen können die Forscher den letzten gemeinsamen Vorfahren der Untersuchten ermitteln. Er könnte vor etwa 239.000 Jahren gelebt haben. Aufgrund des 95-Prozent-Konfidenzintervalls könnten es aber auch 174.000 oder 321.000 Jahre gewesen sein (Nature Genetics 2015; doi:10.1038/ng.3171).
Die Forscher sind bei ihren Analysen natürlich auch auf bekannte Mutationen gestoßen. So hatten mehr als 2.000 Isländer Mutationen im BRCA2-Gen, die das Lebenszeitrisiko auf Krebserkrankungen um den Faktor 4,6 erhöhen. Stefánsson schätzt, dass wenigstens 724 der betroffenen Frauen an Brustkrebs oder Eierstockkrebs und 360 der Männer an Prostatakrebs erkranken werden. Mitteilen darf er dies den Betroffenen derzeit nicht.
Die isländische Regierung hat deCode die Mitteilung an einzelne Teilnehmer untersagt. Stefánsson hofft, dass die Regierung ihre Ansicht überdenkt. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die die US-amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie durch die Offenlegung ihrer Testergebnisse und ihrer Entscheidung zur prophylaktischen Mastektomie und Ovarektomie erzeugt hat, könnte hier vielleicht hilfreich sein.
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