Hauptstadtkongress: Debatte um notwendige Reformen

Berlin – In den nächsten Wochen solle man „die Sachfragen abschließen, dann ist noch genug Zeit für Wahlkampf“ – mit diesen Worten hat heute Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) auf noch ausstehende gesundheitspolitische Vorhaben im Bundestag verwiesen. Gleichwohl nutzte er seine Rede anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des Hauptstadtkongresses, um auf aus seiner Sicht erfolgreiche Reformen seiner Amtszeit hinzuweisen und zukünftigen Reformbedarf zu skizzieren.
Unter anderem lobte Bahr, dass man die regionale Verantwortung der Akteure gestärkt habe. „Wir können nicht glauben, wir steuerten das Gesundheitswesen von Berlin aus“, betonte er. In den Regionen dürften die Aufgaben nicht immer nur einheitlich und gemeinsam angegangen werden. „Freiheitsgrade“ seien notwendig, um etwas auszuprobieren. Sein dezentes Votum für Selektivverträge verband er mit Kritik an den Krankenkassen. Sie forderte Bahr auf, Neues auszuprobieren: Die Kassen sollten vor Ort „gute, neue Wege der Versorgung“ suchen.
Mengenausweitung in Kliniken: bessere Anreizsysteme notwendig
Diese Bemerkung griff Kongressgastgeber Ulf Fink auf: Warum dann Selektivverträge von Krankenkassen mit einzelnen Kliniken nicht erlaubt seien, fragte er. Bei diesem Thema gebe es unterschiedliche Auffassungen in der Koalition und im Bundesrat, erinnerte Bahr und fügte hinzu, dass es eine schwierige Aufgabe bleibe, im Gesundheitswesen Leistungsunterschiede anzuerkennen und zuzulassen.
Selbstkritisch äußerte sich der Minister zum Thema Mengenausweitung in Krankenhäusern. Dass einzelne Kliniken mehr Leistungen anböten, sei an sich positiv. Wenn aber für alle Druck aufgebaut werde, in die Menge zu gehen, müsse man zukünftig zu besseren Anreizsystemen kommen. Dies geht nach seinen Worten nur mit Hilfe von Qualitätsindikatoren. „Diese zu definieren, wird die Herausforderung für die nächsten Jahre sein“, betonte Bahr.
Der Minister lobte die Gesundheitswirtschaft als große und wichtige Branche, mahnte aber auch: „Nie wird das Wünschbare gleich dem Finanzierbaren sein.“ Wer nicht nach der Bezahlbarkeit dessen frage, was er verspreche, werde die Bürger am Ende enttäuschen. Sehr viel deutlicher wurden im Anschluss Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, der Ökonom Bert Rürup und der Bundestagsabgeordnete Edgar Franke (SPD), Mitglied des Gesundheits- und des Rechtsausschusses, in ihrer Diskussion über Anreize im Gesundheitswesen sowie Systemreformen. Sie sprangen kurzfristig für die gesundheitspolitischen Sprecher von SPD, Union und Grünen ein, die wegen einer Anhörung den Bundestag nicht verlassen wollten.
Operieren wir zu viel – oder die anderen zu wenig?
Montgomery äußerte sich kritisch zu den anhaltenden Vorwürfen, es werde in Deutschland zu viel operiert. Die Bürger würden älter und seien zudem dicker, was zu Verschleiß führe. Hinzu kommt nach seinen Worten die Möglichkeit, Menschen zu operieren, bei denen es sich die Ärzte aufgrund vorhandener Erkrankungen früher nicht zutrauten. Vielleicht solle man im Vergleich mit anderen Ländern auch nicht immerzu fragen: „Operieren wir zu viel?“, regte Montgomery an, sondern: „Operieren die zu wenig?“.

Rürup stimmte teilweise zu: Wenn man einerseits stolz auf kurze Wartezeiten sei, dürfe man die Operationszahlen hierzulande, beispielsweise beim Hüftgelenkersatz, nicht mit denen von Ländern vergleichen, die lange Wartelisten hätten. Der Ökonom bezeichnete es aber als bedenklich, wenn Operationszahlen infolge finanzieller Nöte der Kliniken anstiegen und man wegen der unzureichenden Zahlungen der Länder Investitionsmittel förmlich „aus den DRG herausquetschen“ müsse. Für die nächste Legislaturperiode müsse man „das System der Krankenhausfinanzierung auf eine gute Basis stellen“, forderte Rürup.
Kritisch äußerte sich auch Franke: Das DRG-System müsse dringend um Qualitätsindikatoren erweitert werden, verlangte er. Dass zudem einige Länder in ihre Kliniken investierten und andere fast gar nicht mehr, sei nicht tragbar, denn so könne unter den Krankenhäusern auch kein vernünftiger Wettbewerb entstehen. Auch die Bürgerversicherung war noch Thema der Dreierrunde. Ein Prämiensystem, wie es viele Ökonomen forcieren, sei angesichts der sozialstaatlichen Tradition in Deutschland nicht realistisch, befand Franke. „Die Kopfpauschale ist politisch nicht vermittelbar, sie ist politisch tot.“
Bürgerversicherung: „Projektionsfläche unerfüllbarer Hoffnungen“
Rürup gestand, dass er eine Positionierung schwierig finde, weil er sowohl Wissenschaftler wie Politikberater sei. Als Wissenschaftler befürwortet er ein System, in dem die Umverteilung nicht im Rahmen der Sozialversicherung, sondern im Steuersystem geregelt wird, und damit eine Kopfpauschale oder –prämie. Als Politikberater geht er aber im Fall der Umsetzung von geradezu „unendlich vielen Problemen“ aus. Beispielhaft nannte er die Herausforderung, dann alle Einkommensarten und gleichzeitig die Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen. Die Bürgerversicherung, warnte er, sei aber „Projektionsfläche unerfüllbarer Hoffnungen“. Als Schutz vor einer Zwei-Klassen-Medizin sei sie zudem ungeeignet: „Reiche kaufen sich immer und überall eine bessere Medizin.“
Für das heutige duale System von gesetzlicher und privater Krankenversicherung sprach sich erneut der Bundesärztekammerpräsident aus. Es sei fraglich, ob man ein sehr gutes Gesundheitssystem „wirklich vom Kopf auf die Füße“ stellen solle, gab Montgomery zu bedenken. Er hält die Vorstellung ebenso wie Rürup für blauäugig, dass im Rahmen einer Bürgerversicherung eine Zwei-Klassen-Medizin zu verhindern wäre.
Man könne nicht alle in ein System zwingen, warnte er. Vermögendere Bürger würden seiner Meinung nach Zusatzversicherungen abschließen, ein Teil der Ärzte sich wie in anderen Ländern ganz auf privatärztliche Leistungen konzentrieren. Weitere Diskussionen über sinnvolle Reformen werde er gern führen, kündigte er an: „Die Kopfpauschale ist beileibe nicht tot. Wir sind ja auch Meister im Reanimieren.“
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