Heilberufe geschlossen gegen geplante Datenauswertungen der Krankenkassen

Berlin – Die Vertretungen der Heilberufe lehnen die Pläne der Bundesregierung, den Krankenkassen mehr Möglichkeiten zur datengestützten Versichertenansprache zu gewähren, allesamt ab. Das erklärten sie unisono bei der parlamentarischen Anhörung zum Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) in Berlin.
Die Kranken- und Pflegekassen sollen mehr Kompetenzen erhalten, zum Gesundheitsschutz ihrer Versicherten datengestützte Auswertungen vorzunehmen und sie auf die Ergebnisse dieser Auswertung hinzuweisen. Mit dem GDNG soll dazu ein neuer Paragraf in das Sozialgesetzbuch V (SGB V) aufgenommen werden, der das regelt.
Demnach ist diese Möglichkeit allerdings an fünf Zwecke gebunden: die Erkennung von seltenen Erkrankungen, von Krebserkrankungen sowie von schwerwiegenden Gesundheitsgefährdungen, die durch die Arzneimitteltherapie entstehen können.
Auch darf das Vorgehen der Erkennung von ähnlich schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen dienen, soweit dies „aus Sicht der Kranken- und Pflegekassen mutmaßlich im überwiegenden Interesse der Versicherten ist“, heißt es im Gesetzentwurf. Zuletzt sollen die Kassen ihre Versicherten ansprechen dürfen, wenn den Auswertungen zufolge Impfindikationen für Schutzimpfungen vorliegen.
Wird bei der Auswertung eine konkrete Gesundheitsgefährdung bei einem Versicherten identifiziert, sollen die Kassen verpflichtet sein, ihn umgehend auf diese konkrete Gesundheitsgefährdung in präziser, transparenter, verständlicher Weise und in einer klaren und einfachen Sprache hinzuweisen. Das müsse mit einer Empfehlung, eine ärztliche, zahnärztliche, psychotherapeutische oder pflegerische Beratung in Anspruch zu nehmen, verbunden werden.
Die Verarbeitung der Versichertendaten zu diesen Zwecken soll auch ohne die Einwilligung der Betroffenen möglich sein. Allerdings sollen sie aktiv widersprechen können.
Heilberufler gegen Krankenkassen
An diesen Plänen scheiden sich die Geister, und zwar entlang einer klaren Bruchlinie: Während die Krankenkassen sie befürworten, sprechen sich alle Heilberufsorganisationen von der Bundesärztekammer (BÄK) über die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und den Bundesverband der Apothekerverbände (ABDA) bis zur Bundeszahnärztekammer (BZÄK) dagegen aus.
Die Regelung sei sinnvoll und sachgerecht, erklärt der GKV-Spitzenverband. Nur die Kassen würden über Leistungsdaten aus allen Sektoren verfügen, die nun besser und strukturiert nutzbar gemacht werden sollen.
Dies stelle einen sinnvollen Service für die Versicherten zur Vermeidung gesundheitlicher Nachteile dar. Vorgaben zur Umsetzung, zur Informationspflicht durch die Kassen sowie zum Widerspruchsrecht der Versicherten würden sicherstellen, dass Versicherte keine Nachteile erfahren und die Therapiefreiheit gewährleistet bleibt.
„Dadurch entsteht eine ganze Reihe fantastischer Anwendungsmöglichkeiten“, erklärte Marcel Böttcher, Abteilungsleiter Digitale Versorgung & Prävention bei der Barmer, im Bundesgesundheitsausschuss. So könnten beispielsweise gezielt Maßnahmen zur Früherkennung von Niereninsuffizienz, Diabetes, koronarer Herzkrankheit durchgeführt werden.
Auch die Erkennung seltener Erkrankungen könne durch die Zusammenschau der Daten unterschiedlicher Leistungserbringer verbessert werde, führt dazu der BKK-Dachverband in seiner Stellungnahme aus. Auch eine risikoadaptierte Krebsfrüherkennung sei dann möglich.
ZUdem könne die Regelung der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit dienen, beispielsweise durch das Erkennen eines wahrscheinlichen Anspruchs auf Unterstützungsleistungen und das Unterbreiten eines Angebots für Pflegeberatung.
„Hier sehe ich ein großes Potenzial von Humanität und Effizienz“, betonte Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK-Dachverbands. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK) begrüßte die geplante Regelung ebenfalls und wies Kritik vonseiten der Heilberufsorganisationen zurück. „Man kann mit diesen Daten keine Medizin machen“, sagte er. Es handele sich lediglich um Abrechnungsdaten – die jedoch wichtige Zusammenhänge aufzeigen könnten.
Genau darin liegt aus Sicht von Nikolaus Melcop, Vizepräsident des Vorstandes der Bundespsychotherapeutenkammer, schon das erste Problem. Denn die Kassen würden zum Teil unterschiedliche Daten in verschiedenen Formaten erfassen, die medizinische Validität der abgeleiteten Schlussfolgerungen sei damit schon grundsätzlich zu hinterfragen.
„Wir lehnen diesen Regelungsvorschlag entschieden ab“, sagte er. Risiken zu beurteilen und zu entscheiden, welche Behandlung notwendig ist, sei eine Kernaufgabe von Psychotherapeuten und Ärzten. Außerdem könnten die vorgesehenen automatisierten Auswertungen Patienten erheblich verunsichern und zu vorschnellen Behandlungsänderungen drängen.
Aus den jährlichen Berichten der Unabhängigen Patientenberatung (UPD) gehe zudem hervor, dass die Krankenkassen in der Vergangenheit ihre Möglichkeiten zur Beratung nicht im Sinne der Patienten genutzt haben, sondern diese vielfach unter Druck gesetzt hätten, beispielsweise beim Krankengeldmanagement.
Hier erhielt er Zustimmung nicht nur von heilberuflicher Seite, sondern auch von der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). „Wir raten auch von dieser Möglichkeit ab. Das Potenzial, da einen großen Schaden auszulösen, ist schon hoch“, erklärte Thomas Moormann, Leiter des Teams Gesundheit und Pflege der vzbv. „Auch diese Erkenntnis der UPD-Beratung teilen wir.“
So habe die vzbv auch aus der Patientenberatung die Rückmeldung erhalten, dass die Kassen immer wieder Einfluss auf Versorgungsentscheidungen nehmen würden und auch Risikoselektion durchaus stattfinde. So würden Kassen beim Krankengeldmanagement ihre Versicherten drängen, ihre Arbeitsverträge zu kündigen. „Das sind Ausnahmefälle, aber es kommt vor“, sagte er. „Das ist ein starker Hinweis darauf, dass das hochproblematisch ist.“
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) begrüße zwar die Intention, die bei den Krankenkassen aggregierten Gesundheitsdaten stärker zur Verbesserung des individuellen Gesundheitsschutzes nutzbar machen zu wollen, lehnt die geplante Ausgestaltung jedoch ebenfalls ab.
„Patienten haben einen Anspruch darauf, dass Ärzte diese Daten bewerten“, erklärte DGIM-Digitalberater Philipp Stachwitz. Deshalb sollten die Kassen in dem Verfahren ausschließlich die jeweils behandelnden Ärzte adressieren.
Auch die BÄK sieht es als grundsätzlich sinnvoll an, die bei den Kranken- und Pflegekassen vorliegenden Daten auszuwerten. Allerdings sollte diese Auswertungen primär das Ziel verfolgen, das Dienstleistungsangebot der Kassen versichertenindividuell auszurichten, beispielsweise mit Informationen zu Behandlungsmöglichkeiten oder über Präventions- und Vorsorgeangebote.
Die Daten, die aus dem Abrechnungskontext stammen, hingegen würden die Morbidität des Versicherten nicht derart abbilden, dass valide Aussagen zu einer Früherkennung seltener Erkrankungen oder von Krebsrisiken sowie die Identifizierung schwerwiegender Gesundheitsgefährdungen möglich wären.
„Vielmehr ist mit einer Verunsicherung von Patientinnen und Patienten und Ärztinnen und Ärzten hinsichtlich dieses Eingriffs in die bestehende Behandlungsbeziehung zu rechnen“, schreibt sie in ihrer Stellungnahme.
Außerdem stelle sich die Frage, warum es überhaupt eine Überprüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit durch die Krankenkassen geben sollte. Schließlich sehe der parallel verhandelte Entwurfs des Digitalgesetzes (DigiG) bereits vor, dass zukünftig regelhaft auf Basis der elektronischen Rezepte (E-Rezepte) eine individuelle Medikationsliste in der elektronischen Patientenakte (ePA) generiert werden soll.
Ein vollständiger Überblick der aktuellen und zurückliegenden Medikationen liege dann also bereits vor und somit eine valide Grundlage für eine Prüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit durch die behandelnden Ärzte.
Ähnlich sieht es die KBV. Auf Grundlage der bei den Kassen vorhandenen Daten wären Maßnahmen wie beispielsweise Einladungen zu Frühuntersuchungen oder Hinweise auf Impflücken unkritisch, erklärte Vorstandsmitglied Sibylle Steiner. Bei der vorgesehenen automatisierten Verarbeitung versichertenbezogener Daten handele es sich hingegen um eine Screeningmaßnahme mit unklarem Nutzen.
Auch sei zu bezweifeln, dass es aktuell validierte Prognosemodelle gibt, die auf Basis der bei den Kostenträgern vorhandenen Daten eine sichere Vorhersage der genannten Risiken mit ausreichender Präzision ermöglichen. Und selbst wenn, dann müsste dies erst wissenschaftlich geprüft werden.
Bevor solche Algorithmen eingesetzt werden können, müsse gesichert sein, dass die Zahlen der falsch positiven und falsch negativen Ergebnisse im akzeptablen Bereich liegen. Falsch positive Ergebnisse würden nicht nur zu einer unnötigen Verunsicherung der Versicherten führen, sondern auch zu überflüssigen Folgeleistungen im Versorgungssystem.
Bei falsch negativen Ergebnissen wiederum könnten sich Versicherte in falscher Sicherheit fühlen und möglicherweise sogar auf sinnvolle Früherkennungsmaßnahmen mit nachgewiesenem Nutzen verzichten. Auch könne die vorgesehene Prüfung auf Arzneimittelinteraktionen ohne eine Berücksichtigung der individuellen Situation zu Fehlschlüssen führen. Sie müsse deshalb den Vertragsärzten vorbehalten bleiben.
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