Hochpotentes Nervengift bei Muskelschwund

Göttingen – Das hochgiftige Tetanustoxin ist als neuer Therapieansatz bei Störungen des zentralen Nervensystems, die zu dauerhaften Lähmungen und Muskelschwund führen, in den Fokus der Forschung gerückt.
Multiple Sklerose, Schlaganfall und Rückenmarksverletzungen zählen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen und haben zum Teil erhebliche Folgen auf die motorischen Fähigkeiten von Patienten. Motorische Einschränkungen beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich und sind mit einem hohen Risiko für Folgeerkrankungen verbunden.
Als neuen pharmakologischen Ansatz bei Muskelschwund untersuchten Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen und Berlin das hochpotente Nervengift Tetanustoxin (Auslöser von Wundstarrkrampf). Untersuchungsobjekte waren Hunde, die aufgrund eines stattgehabten Bandscheibenvorfalls an einer Querschnittlähmung litten, um zu testen, ob eine Verringerung der spinalen inhibitorischen Aktivität durch intramuskuläre Injektionen von Tetanusneurotoxin motorische Symptome wie Muskelschwund oder Gangfunktion bessert.
In dieser Studie (Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle, 2021; DOI: 10.1002/jcsm.12836) erhielten 25 querschnittsgelähmte Hunde Injektionen von Tetanusneurotoxin (TeNT) oder Placebo in die Region der gelähmten Hinterbeine in den Musculus gluteus medius sowie Musculus rectus femoris. Die Auswirkungen des Tetanusneurotoxins auf die Muskeldicke wurden per Ultraschall bewertet. Veränderungen auf die Gangfunktion wurden mit modifizierten funktionellen Scoring-Systemen gemessen.
„4 Wochen nach der Injektion von Tetanustoxin in die vom Muskelschwund betroffene Muskulatur ergab die erneute Messung eine signifikante Zunahme der Muskeldicke im Vergleich zu den mit Placebo injizierten Hunden“, schildert Dr. Anja Manig, eine Erstautorin der Publikation und Ärztin an der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Es wurden jedoch keine Unterschiede in der Gangfunktion zwischen der TeNT- und der Placebogruppe verzeichnet, geben die Studienautoren zu bedenken.
Im Hinblick auf die positiven Auswirkungen auf die Muskeldicke stellen intramuskuläre Injektionen von TeNT somit einen neuen pharmakologischen Ansatz dar, der die Auswirkungen von Muskelatrophien begrenzen könnte. Darüber hinaus unterstützen die Studiendaten die Sicherheit dieser Behandlung, wenn TeNT in niedriger Dosis angewendet wird.
Hinweise zum Wirkmechanismus
„Zum Wirkmechanismus wissen wir, dass Tetanustoxin, wenn wir es in den Muskel injizieren, hemmende Nervenzellen auf Rückenmarksebene ausschaltet. Dadurch werden motorischen Nervenzellen wieder aktiviert, die die betroffene Muskulatur direkt ansteuern. Auf Grundlage dieser einzigartigen Wirkungsweise lässt sich eine Zunahme der Muskelmasse von zuvor gelähmter Muskulatur erzielen“, sagt Studienautorin Anna Kutschenko, Ärztin in der Klinik für Neurologie der UMG.
TeNT wurde bisher noch nicht als Therapieoption beim Menschen eingesetzt. Daher werden noch eingehende Untersuchungen zur Wirksamkeit, Sicherheit sowie Dosierung des Nervengifts beim Menschen folgen.
„Es ist das erste Mal überhaupt, dass mit einer medikamentösen Behandlung ein Muskelaufbau bei gelähmten Muskeln erzielt werden konnte“, erläutert Liebetanz, Leiter des Projekts am UMG und Seniorautor der Publikation.
„Obwohl Tetanustoxin eine hohe Ähnlichkeit mit Botulinumtoxin aufweist, wirkt es genau gegenteilig. Während Botulinumtoxin zu Lähmung und Muskelatrophie führt, bewirkt Tetanustoxin eine Zunahme des Muskeltonus und der Muskelmasse“, so Liebetanz.
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