IGES-Gutachten spricht sich gegen Änderung der Honorarsystematik aus
Köln – Eine Anhebung der morbiditätsorientierten Gesamtvergütungen je Versicherten auf das Niveau des Bundesdurchschnitts, wie sie einige Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) seit langem fordern, führt weder zu einer besseren Versorgung der Bevölkerung noch löst sie das Problem des Ärztemangels in strukturschwachen Regionen. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des IGES Instituts im Auftrag des GKV-Spitzenverbands, das dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt.
Das Gutachten setzt sich zum einen mit der Forderung der in der Arbeitsgemeinschaft LAVA - „Länderübergreifender Angemessener Versorgungsanspruch” zusammengeschlossenen KVen Brandenburg, Nordrhein, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe auseinander, die Gesamtvergütungen künftig an Morbiditätsstrukturmessungen auszurichten, um für mehr Honorargerechtigkeit zu sorgen. Zum anderen geht es der Frage nach, ob die morbiditätsorientierte Gesamtvergütung in einigen Regionen tatsächlich zu niedrig bemessen ist.
Morbiditätsmessungen sind stark abhängig von der Wahl der Methodik
Nach Ansicht der IGES-Autoren belegen wissenschaftliche Studien, dass die Vorjahresausgaben, an denen sich die Anpassung des Behandlungsbedarfs derzeit bemisst, ebenso gut geeignet sind, um die Leistungsausgaben des Folgejahres vorherzusagen wie diagnosebasierte Modelle, die die LAVA-KVen fordern. Morbiditätsmessungen seien stark abhängig von der Wahl der Methodik. Das führe dazu, dass die Ergebnisse tendenziell uneindeutig und konfliktträchtig seien. Zu berücksichtigen seien auch problematische Kodiereffekte.
Gutachter für Beibehaltung der jetzigen Vergütungssystematik
Die Gutachter plädieren stattdessen für die Beibehaltung der jetzigen Vergütungssystematik. Nehme man die tatsächlich abgerechneten Leistungen als Basis für die Verhandlung der Gesamtvergütung, bilde dies auch die spezifischen regionalen Versorgungsstrukturen ab. Am Beispiel der KV Sachsen-Anhalt zeige sich, dass die Arztdichte, die Aufgabenverteilung zwischen ambulantem und stationärem Sektor sowie das Inanspruchnahmeverhalten der Bevölkerung erhebliche regionale Unterschiede aufweisen, die sich auf die Menge der vertragsärztlichen Leistungen auswirkten.
Zwischen 2008 und 2012 sei die morbiditätsorientierte Gesamtvergütung in Sachsen-Anhalt um 34 Prozent gestiegen. Im Durchschnitt von 15 KVen habe der Anstieg weniger als die Hälfte betragen (plus 15 Prozent). Gegenüber der Vergütung sei die Menge der Leistungen jedoch deutlich geringer gestiegen, um nur 10,9 Prozent. Die Autoren folgern daraus, dass die Hypothese der LAVA-KVen, die Gesamtvergütung sei in ihren Regionen zu niedrig bemessen, zumindest für Sachsen-Anhalt nicht zutrifft. „Hätte vor der Vergütungsreform aufgrund einer vermeintlich zu niedrig bemessenen Gesamtvergütung eine unbefriedigte Nachfrage nach vertragsärztlichen Leistungen bestanden, dann hätte man erwarten können, dass die Brutto-Leistungsmengen in etwa parallel zu den zusätzlichen Vergütungsmitteln gestiegen wären“, heißt es in dem Gutachten.
Zwar räumen die Gutachter ein, dass die morbiditätsorientierte Gesamtvergütung pro Versicherten auch im Jahr 2012 in Sachsen-Anhalt mit 327 Euro noch unter dem Bundesdurchschnitt von 341 Euro lag. Sie halten dies aber für gerechtfertigt, weil das vertragsärztliche Kapazitätsangebot – gemessen an der Arztdichte – sowie die tatsächliche Inanspruchnahme – gemessen an der Fallzahl beziehungsweise der Brutto-Leistungsmenge je Versicherten – dort deutlich niedriger seien als im Durchschnitt von 15 Vergleichs-KVen.
Ist-Leistungsmengen bilden nicht den idealen Versorgungsstandard ab
Die Autoren geben zu, dass die Ist-Leistungsmengen in den Regionen nicht den idealen Versorgungsstandard spiegeln. Für die Bemessung der Vergütung sei aber relevant, dass sie die tatsächliche Versorgungsrolle der vertragsärztlichen Versorgung abbilde, das heißt deren realen Anteil an der Versorgung der Bevölkerung. Bei einer Morbiditätsstrukturmessung, die sich bei der Bemessung der Vergütung am Bundesdurchschnitt orientiere, sei dagegen zu befürchten, dass es zu einer „die tatsächlichen Versorgungsrealitäten ignorierenden finanziellen Über- oder Unterausstattung der KV-Regionen käme“.
Vergütungsanreize lösen nicht das Nachwuchsproblem
Außerdem spricht nach Ansicht der IGES-Gutachter wenig dafür, dass eine Erhöhung der morbiditätsorientierten Gesamtvergütung je Versichertem die Attraktivität von strukturschwachen Regionen für den ärztlichen Nachwuchs erhöht. Beispiel Sachsen-Anhalt: Dort lägen die GKV-Honorare der Vertragsärzte deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Hausärzte erzielten dort 2012 im Durchschnitt ein Honorar von knapp 235.000 Euro, 14 Prozent mehr, als in den 15 Vergleichs-KVen erzielt wurde. Dort lag das hausärztliche Honorar bei knapp 206.000 Euro. Bei den Fachärzten klaffte eine noch größere Lücke. Sie verdienten in Sachsen-Anhalt 2012 knapp 233.000 Euro gegenüber 194.000 in den Vergleichs-KVen. Vergütungsanreize reichten offenbar nicht aus, um das Problem des Nachwuchsmangels in strukturschwachen Regionen zu lösen.
Notwendige Strukturveränderungen könne man nicht mit einer Reform der Vergütungssystematik realisieren, so die Schlussfolgerung der Gutachter. Hier sei der Gesetzgeber gefordert. Außerdem müssten die Bedarfs- und die Krankenhausplanung angepasst werden.
„Die Forderung der Ärzteseite nach pauschal mehr Geld funktioniert nicht“, kommentierte der GKV-Spitzenverband die Studie, die er in Auftrag gegeben hatte.
Scharfe Kritik vom Hartmannbund
Heftige Kritik kam dagegen vom Hartmannbund. „Hier soll auf der Basis pseudowissenschaftlicher Bewertungen von historisch gewachsenen Strukturen im Auftrag der Krankenkassen die Konvergenz zu Grabe getragen werden“, erklärte dessen Vorsitzender Klaus Reinhardt.
Ein derartiger Beitrag zur Debatte sei darüber hinaus ein weiterer Beweis, welch undurchschaubares Maß an Komplexität und Intransparenz das vertragsärztliche Vergütungssystem inzwischen angenommen habe. Die Krankenkassen sollten sich deshalb weniger mit der Vergabe von Auftragsgutachten beschäftigen, sondern stattdessen endlich einen konstruktiven Beitrag zur Einführung fester Preise liefern.
Zum Hintergrund: Bei der letzten großen Honorarreform 2008 wurden zwar die Preise für ärztliche Leistungen vereinheitlicht, nicht jedoch die je nach Erkrankung durchschnittlich anzusetzende Leistungsmenge für die Versorgung von Versicherten. Diese fiel aufgrund regional unterschiedlicher Strategien zur Mengensteuerung von KV zu KV höchst unterschiedlich aus.
So galt in manchen KVen ein hoher Punktwert, aber eine eher rigide Mengenbegrenzung, während in anderen KVen zwar mehr Leistungen erbracht wurden, aber zu einem niedrigeren Punktwert. Die in LAVA zusammengeschlossenen KVen sind der Auffassung, dass die Leistungsmenge in ihren Regionen bei der Honorarreform zu niedrig bemessen und nie angeglichen wurde.
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