Mangel an Forschung bei Seltenen Erkrankungen

Berlin – Bei der Erforschung Seltener Erkrankungen sowie geeigneter Arzneimittel und Therapien für Betroffene besteht nach wie vor dringender Handlungsbedarf. Dies wurde bei der Nationale Konferenz zu Seltenen Erkrankungen (NAKSE) der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) deutlich, die derzeit in Berlin stattfindet.
Organisiert wird sie von dem Dachverband von und für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Kooperation mit den Zentren für Seltene Erkrankungen. Die Konferenz bildet mittlerweile eine feste Plattform für den Austausch und die Zusammenarbeit von Akteurinnen und Akteuren aus den Bereichen Medizin, Wissenschaft, Forschung, Politik, Industrie sowie von Betroffenen.
Aus Sicht der ACHSE konnte für die rund vier Millionen Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland bereits viel erreicht werden. So gibt es 36 Zentren für Seltene Erkrankungen, ein aktives Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE), innovative Versorgungs- und Forschungsprojekte sowie eine europäische Zusammenarbeit.
Doch es gibt noch viele Defizite. So wird beispielsweise die Erforschung Seltener Erkrankungen wegen der geringen Anzahl Betroffener und der hohen Kosten von der pharmazeutischen Industrie oft als nicht lohnend oder nicht vordringlich genug angesehen. Dies war auch ein Schwerpunktthema der diesjährigen Tagung.
Eva Luise Köhler, Schirmherrin der ACHSE, appellierte daran, Menschen mit Seltenen Erkrankungen nicht zu vergessen und mahnte eine gemeinsame Kommunikation auf Augenhöhe sowie eine strukturelle Förderung der Forschung an. Von der Erforschung Seltener Erkrankungen könnten auch die häufigen Erkrankungen profitieren, so Köhler. Das gelte nicht nur für Therapieansätze, sondern auch für die Netzwerke.
Bestehende Netzwerke stärken und den Anschluss nationaler Strukturen an europäische Netzwerke fördern, will auch Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU). In ihrer Videobotschaft zur Konferenz sagte sie dem Bereich der Seltenen Erkrankungen explizit ihre Unterstützung zu.
Damit griff sie ein im Koalitionsvertrag für die aktuelle Legislatur festgehaltenes Vorhaben auf. Darin heißt es, dass die Koalition weitere Maßnahmen ergreifen wolle, um die gesundheitliche Situation von Betroffenen Seltener Erkrankungen zu verbessern, zum Beispiel „durch Ausbau und Stärkung von digital vernetzten Zentren“.
Die ACHSE hatte jüngst in ihrem Positionspapier „4 Millionen Gründe für eine bessere Gesundheitspolitik“ dringende Handlungsfelder beschrieben, insbesondere in den Bereichen Versorgung, Wissen, Lebensqualität, Finanzierung und Arzneimittel. Sie stehe mit konkreten Handlungsempfehlungen und der Expertise ihres Netzwerkes zur Verfügung, bot sie an.
Schwierige Rahmenbedingungen
Das Interesse an der Einbindung von Betroffenen, Selbsthilfe oder Akteuren der Primärversorgung in die Forschung sei sehr groß, bestätigte heute Antonia Waszczuk, Mutter von zwei Kindern mit Mukopolysaccharidose San-filippo, einer seltenen erblichen Stoffwechselstörung, die zu einer neurodegenerativen Erkrankung führt. Aufgrund der organisatorischen Rahmenbedingungen gestalte sich dies jedoch teils schwierig. Zudem sei die Patienteneinbindung in Forschungsprojekte häufig nicht mit entsprechenden Ressourcen hinterlegt.
Die Finanzierung zu stärken und Netzwerke sowie Register auszubauen und verstetigen, hält auch Frank Leypoldt von Universitätsklinikum Schleswig-Holstein für entscheidend. Ziel seines Forschungsverbunds „Connect Generate“ (Verbinden generieren) ist es, durch die Kooperation von Zentren mit klinischer und wissenschaftlicher Expertise Klinik, Verlauf und Therapiestrategien sowie die Immunpathogenese und Neuropathophysiologie von verschiedenen Autoimmunenzephalitiden besser zu charakterisieren.
Aufgrund der Seltenheit der autoimmunen Enzephalitis könnten neue Erkenntnisse zu wirkungsvollen Therapien, die zu schnellerer Diagnose und günstigeren Verlauf führten, nur im Rahmen großer Fallsammlungen gewonnen werden, sagte er.
Roman Müller vom Universitätsklinikum Köln verdeutlichte die Notwendigkeit von akademischen Studien. Einige Interventionen, wie beispielsweise der Einsatz von SGLT2-Inhibitoren bei Menschen mit autosomal dominanter polyzystischer Nierenerkrankung (ADPKD), würden ansonsten von der Industrie kaum untersucht.
SGLT2-Inhibitoren führen nicht nur bei chronischer Nierenerkrankung, sondern auch bei Diabetes und Herzinsuffizienz zu einer deutlichen Verbesserung der Prognose. ADPKD-Patienten und -Patientinnen seien aber von der Industrie von den Zulassungsstudien zur Behandlung der chronischen Nierenerkrankung ausgeschlossen gewesen.
Da es nur sehr begrenzte Therapiemöglichkeiten bei ADPKD gibt, ziele seine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie nun darauf ab, die Sicherheit und Wirksamkeit von SGLT2-Inhibitoren bei Erwachsenen mit ADPKD zu untersuchen, so Müller.
Die Prüfer-initiierte Studie werde als randomisierte, Placebo-kontrollierte, doppelblinde, multizentrische Studie nach höchsten Qualitätsstandards in 18 deutschen und sechs europäischen Studienzentren durchgeführt.
Der Pharmakologe Harald Schmidt von der Universität Maastricht stellte auf der NAKSE seine Vision einer „Netzwerk- und Systemmedizin“ vor. Den meisten Arzneimitteln mangele es an Präzision, sagte er. Die Kosten für die Entwicklung von Arzneimitteln stiegen immer weiter, während der Output gleichbleibe. In Folge ziehe sich die Pharmaindustrie aus vielen Indikationen zurück und konzentriere sich wenige und gewinnbringende Wirkstoffe.
Das „Kardinalproblem“ sei: „Wir verstehen so gut wie keine Erkrankung.“ Die Medizin teile den Menschen und die Erkrankungen nach Organen auf, anstatt die molekulare Ursache der Erkrankung zu behandeln. Helfen könne dabei künftig die Künstliche Intelligenz, sagte der Pharmakologe.
Defekte Signalmodule könnten künftig die Basis für neue molekulare Krankheitsdefinitionen werden, prognostizierte er. Netzwerkpharmakologie sei das Stichwort für die Zukunft. Langwierige Neuentwicklungen im Arzneimittelbereich könnten möglicherweise entfallen, meint er. Repurposing habe „ein gigantisches Potential“, so Schmidt.
In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung. In Europa sind es 30 Millionen, weltweit sogar 300 Millionen. Viele Betroffene unterstützen sich gegenseitig in Selbsthilfeorganisationen, auch über die Grenzen hinaus. Um gemeinsame Anliegen zu artikulieren und den Erfahrungsaustausch untereinander zu forcieren, engagiert sich ein großer Teil dieser Organisationen in der ACHSE.
In Europa gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen das spezifische Krankheitsbild aufweisen. Rund 30.000 Krankheiten sind weltweit bekannt, davon zählen etwa 8.000 zu den Seltenen Erkrankungen, auch „Orphan Diseases“ genannt.
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