Medizin

Medizinnobelpreis: Platz- und Rasterzellen sind das GPS des Gehirns

  • Montag, 6. Oktober 2014
Uploaded: 06.10.2014 15:35:03 by mis
Medizinnobelpreisträger 2014: Edvard Moser, May-Britt Moser und John O' Keefe /dpa

Stockholm – Der diesjährige mit acht Millionen schwedischen Kronen (rund 881.000 Euro) dotierte Nobelpreis geht zur Hälfte an den britischen Hirnforscher John O’Keefe vom University College London und zur anderen Hälfte an das norwe­gische Forscher­paar May-Britt Moser and Edvard Moser. Ausgezeichnet wurde die Entdeckung von Zellen, die ein Raumortungssystem im Gehirn etablieren

Woher weiß mein Gehirn, wo ich mich befinde? Diese Frage hat in den letzten Jahrhun­derten Philosophen wie Leibniz, Kant und Newton beschäftigt. Doch erste überprüfbare Antworten konnten erst die diesjährigen Nobelpreisträger John O’Keefe sowie May‐Britt Moser und Edvard Moser geben. In tierexperimentellen Studien orteten sie das GPS des Gehirns in „Platzzellen“ des Hippocampus und in „Rasterzellen“ des benachbarten entorhinalen Cortex.

John O’Keefe vom University College London entdeckte die Platzzellen („place cells“) 1971 bei Ratten, denen er Mikroelektroden in den Hippocampus implantiert hatte. Eigentlich wollte der Hirnforscher untersuchen, wie dieses Hirnzentrum, das die Speicherung von Gedächtnisinhalten organisiert, auf bestimmte Verhaltensweisen reagiert. Zur Überraschung entdeckte er, dass die Signale aus dem Hippocampus ortsabhängig waren.

Uploaded: 06.10.2014 15:36:57 by mis
Schema

Wenn die Tiere sich in einem bestimmten Teil des Käfigs aufhielten, wurden immer spezielle Neurone im Hippocampus aktiv, die gewisser­maßen den Aufenthaltsort markierten. Änderten die Tiere ihren Standort im Käfig, wurden andere „Place cells“ aktiv (Brain Research 1971; 34: 171‐175). O’Keefe schloss daraus, dass die Tiere eine Art Landkarte im Gehirn haben, die ihnen die Orientierung im Raum erleichtert und ihnen hilft, einen einmal aufgesuchten Ort wiederzu­finden. O’Keefe fasste seine Vorstellungen später mit Lynn Nadel in dem Buch „The Hippocampus as a Cognitive Map“ zusammen.

Drei Jahrzehnte später entdeckten May‐Britt Moser und Edvard Moser von der Tech­nisch-Natur­wissenschaftlichen Universität Norwegens in Trondheim eine weitere Art von GPS-Zellen im Gehirn (Nature 2005; 436: 801‐806). Im entorhinalen Cortex, einer Region in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Hippocampus, fanden die beiden Forscher sogenannte Rasterzellen („grid cells“), die ähnlich wie in einem Koordina­tensystem den Ort der Versuchstiere abspeichern. Dieses System soll den Tieren selbst in völliger Dunkelheit eine Orientierung ermöglichen. Zellen des entorhinalen Cortex sollen auch Bewegungsrichtungen abspeichern.

Ob es die gleichen Zellen auch beim Menschen gibt, ist nicht erwiesen. Um sie nachzu­weisen, müssten Elektroden im Gehirn von Probanden platziert werden, was ethisch nicht vertretbar ist. Die Hirnforscher gehen jedoch davon aus, dass es auch beim Menschen ein inneres GPS gibt. Interessanterweise gehört der entorhinale Cortex zu den ersten Hirnarealen, die beim Morbus Alzheimer geschädigt werden. Dies könnte eine nach­haltige Desorientierung erklären, die bei diesen Patienten beobachtet wird.

Preisträger "erschüttert"
Die Preisträger zeigten sich von der Auszeichnung überrascht. May-Britt Moser berich­tete auf der Nobelpreis-Internetseite, der Anruf habe sie derart „erschüttert”, dass sie in Tränen ausgebrochen sei. Ihr Ehemann befand sich zum Zeitpunkt der Bekanntgabe in einem Flugzeug auf dem Weg nach München.

Als Edvard Moser das Flugzeug verließ, wurde er von der Flughafenverwaltung mit Blumen empfangen. Erst da entdeckte er, dass er auf seinem Mobiltelefon „über 120 verpasste Anrufe” hatte, darunter vom Sekretär des Nobelpreis-Komitees, Göran Hansson. „Ich habe das überhaupt nicht erwartet, deshalb verstand ich nicht, was los war, als ich am Flughafen mit Blumen empfangen wurde”, sagte Moser weiter. Auch der dritte Preisträger John O'Keefe zeigte sich „sehr sehr glücklich”.

Der Medizinnobelpreis wurde seit 1901 an insgesamt 104 Wissen­schaftler verliehen. Darunter waren bisher nur zehn Frauen. Das Durchschnittsalter der Preisträger ist 58 Jahre. Der jüngste Lauerat war Frederick Banting. Er erhielt die Auszeichnung im Jahr 1923, nur ein Jahr nach der Entdeckung des Insulins, das erstmals eine effektive Behandlung des Typ 1-Diabetes ermöglichte.

Francis Peyton Rous war dagegen bereits 87 Jahre, als er 1966 für Experimente zur Übertragung von Krebs durch Viren ausgezeichnet wurde, die er 45 Jahre zuvor durchgeführt hatte. Im letzten Jahr war der Preis für die Entdeckungen von Trans­portprozessen in Zellen an an James Rothman, Randy Schekman und Thomas Südhof verliehen worden.

Interview mit John O' Keefe

Interview mit May‐Britt Moser

rme

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung