Medizin

Multiple Sklerose: Kein Hinweis auf venöse Abflussstörungen

  • Donnerstag, 15. August 2013

Hamilton – Nach der umstrittenen Hypothese eines italienischen Neurologen soll die multiple Sklerose Folge einer „chronischen cerebro-spinalen venösen Insuffizienz“ (CCSVI) sein. Eine derartige Abflussstörung des Blutes aus dem Gehirn war in einer aktuellen Studie in PLOS ONE (2013; 8: e72495) jedoch weder im Ultraschall noch mittels der Kernspintomographie nachweisbar.

Paulo Zamboni von der Universität Ferrara hatte vor fünf Jahren in mehreren Fachzeit­schriften berichtet, dass Patienten mit multipler Sklerose Stenosen in der Vena jugularis interna oder anderen intrazerebralen Venen haben. Die daraus resultierende venöse Abflussstörung des Gehirns könnte an der Pathogenese der Erkrankung beteiligt sein, spekulierte Zamboni damals.

Diese Hypothese führte zur Entwicklung der „Liberation Treatment“, bei der durch Ein­lage von Stents oder mittels einer Ballondilatation versucht wird, die vermeintliche venöse Blockade zu beheben. Diese Therapie ist nicht nur gefährlich – schon bald wurde über Todesfälle berichtet – sie hat sich auch in klinischen Studien als unwirksam erwiesen.

Jetzt stellen kanadische Forscher auch die Untersuchungsergebnisse von Zamboni infrage. Ian Rodger von der Michael G. DeGroote School of Medicine in Hamilton im Bundesstaat Ontario und Mitarbeiter haben bei insgesamt hundert Patienten mit multipler Sklerose die tiefen intrakraniellen Venen untersucht. Bei den meisten Patienten konnte im Ultraschall keines der fünf von Zamboni aufgestellten Kriterien einer CCSVI bestätigt werden.

So fehlte der Reflux in den Vena jugularis interna in der sitzenden oder liegenden Position (Kriterium I), und es war auch kein Reflux oder Stillstand in den tiefen zerebralen Venen erkennbar (Kriterium II). In der hoch auflösenden B-Mode-Darstellung waren keine Stenosen sichtbar (Kriterium III), und in der Doppler-Sonographie war entgegen den Forderungen von Zamboni meistens ein Blutfluss nachweisbar (Kriterium IV).

Auch die von Zamboni postulierte „umgekehrte Positionskontrolle der cerebralen venösen Hauptabflusswege“ (Kriterium V) konnte Rodger nur bei wenigen Patienten reproduzieren. Am Ende wurde bei vier Patienten jeweils ein einzelnes Kriterium nachgewiesen. Nur einer von 99 Patienten erfüllte zwei Kriterien und käme damit für die Diagnose einer CCSVI infrage.

Auch in einer kernspintomographischen Untersuchung konnten die kanadischen Forscher keine Unterschiede im Blutfluss oder der venösen Architektur zu einer Kontrollgruppe von Patienten ohne multiple Sklerose finden, so dass die kanadischen Mediziner die CCSVI-Hypothese für widerlegt halten.

Dies passt auch zu den jüngsten klinischen Erfahrungen mit dem „Liberation Treatment“. Im April 2013 hatten US-Mediziner auf der Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) in San Diego über den negativen Ausgang einer Phase-1-Studie an allerdings nur 20 Patienten berichtet.

Dort hatte eine Venoplastie der Vena jugularis interna oder der Vena azygos sogar zu einem tendenziellen Anstieg in der Schubfrequenz geführt. Angesichts dieser Ergebnisse – sowie früherer Todesfälle und fehlender Evidenz aus anderen Studien - hatte die Deutsche Gesellschaft für Neurologie gefordert, die umstrittene Therapie nicht außerhalb klinischer Studien durchzuführen.

rme

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