Nicht zugelassene Gentherapie: Krankenkassen unter Druck

Berlin – Die Krankenkassen sehen sich unter Druck, eine noch nicht in der EU zugelassene Gentherapie zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie vom Typ 1 (SMA) schon vor der Zulassung zu bezahlen. Sie wehren sich in einem Schreiben an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), das dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt, gegen die Aushöhlung bestehender gesetzlicher Regelungen.
Hintergrund sind Einzelfälle, in denen Kassen die Therapie mit Zolgensma von Novartis nach Medienkampagnen bezahlt hatten. Es könne angesichts der „erheblichen Renditen“, die mit Arzneimitteln für neuartige Therapien erzielt würden, nicht ohne Widerspruch hingenommen werden, wenn bereits ohne Zulassung über eine „beispiellose Medienkampagne“ ein erheblicher Druck auf Krankenkassen und Ärzte entfaltet werde, ein nicht zugelassenes Medikament zu Lasten der Versichertengemeinschaft vorab einzusetzen, heißt es in dem Brief an Spahn, der auch an führende Gesundheitspolitiker im Bundestag adressiert ist. Die Kosten für die einmalige Therapie mit Zolgensma liegen bei zwei Millionen Euro pro Patient.
Die Krankenkassen fordern zusammen mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und dem Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD), die das Schreiben ebenfalls unterzeichnet haben, gesetzlich festzuschreiben, dass (noch) nicht in Deutschland zugelassene Arzneimittel nur im Rahmen eines Härtefallprogramms eingesetzt werden dürfen.
Schon heute ist es möglich, im Rahmen von Härtefallprogrammen lebensbedrohlich erkrankte Patienten ohne Therapiealternative mit nicht zugelassenen Arzneimitteln zu behandeln. Die Kosten trägt dabei der pharmazeutische Hersteller. Das soll nun nach dem Willen von Kassen und Kliniken Pflicht werden.
In dem Brief an Spahn wird die Sorge geäußert, dass die aktuelle Entwicklung mit Zolgensma eine Blaupause sein könnte, weitere neue, teure Arzneimittel noch vor der Zulassung in Deutschland in größerem Umfang zu vermarkten. Damit würden nicht nur die Zulassung, sondern auch die frühe Nutzenbewertung des G-BA samt der anschließenden Preisverhandlungen mit den Pharmaunternehmen ausgehebelt.
Mit dem Härtefallprogramm würde „perspektivisch für alle Beteiligten Klarheit über das Vorgehen bestehen“, schreiben Krankenkassen, GKV-Spitzenverband, G-BA und VUD. Die Sicherstellung und Finanzierung einer qualitativ hochwertigen Arzneimitteltherapie müsse auf dem Stand des medizinischen Wissens und der gesetzlichen Vorgaben erfolgen und dürfe nicht in die Abhängigkeit von Pressekampagnen abgleiten.
Zugelassen in den USA
Hintergrund des Schreibens ist, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA im Mai dieses Jahres mit Zolgensma von Novartis eine Gentherapie zur einmaligen Behandlung der SMA zugelassen hat. In Europa steht die Zulassung noch aus. Sie könnte Schätzungen zufolge im ersten Quartal des kommenden Jahres erfolgen.
Nach der Zulassung in Europa wären die Krankenkassen zur Übernahme der Kosten verpflichtet. Den Preis könnte die Industrie in Deutschland ein Jahr lang vorgeben, bevor auf Basis einer Nutzenbewertung Preisverhandlungen mit den Krankenkassen erfolgen müssen.
Da es sich bei SMA mit einer Inzidenz von etwa 1:10.000 Neugeborenen um eine seltene Erkrankung handelt, deren Krankheitsverlauf bei Säuglingen unbehandelt zügig fortschreitet und zu einer generalisierten Muskelschwäche und Lähmung der Atemmuskulatur mit Todesfolge führt, greift zudem die bestehende Sonderregelung für Orphan Drugs.
Haftungsrisiken für Ärzte
Nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) gilt bei Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen ein Zusatznutzen als belegt. Erst wenn der Hersteller mit dem Medikament mehr als 50 Millionen Euro pro Jahr umsetzt, sieht das Gesetz eine Nutzenbewertung nach dem üblichen Verfahren vor.
Krankenkassen, G-BA und VUD führen in dem Schreiben an Spahn aus, dass die Europäische Zulassungsbehörde noch keine abschließende Nutzen-Risiko-Bewertung vorgenommen hat und eine Zulassung für die EU noch nicht erteilt ist. Eine Anwendung in Deutschland setze daher einen Einzelimport voraus und sei „mit erheblichen haftungsrechtlichen Risiken für den behandelnden Arzt verbunden“, heißt es in dem Brief.
Grundsätzlich müsse gelten, dass die Indikation für eine Therapie mit Zolgensma sehr kritisch im konkreten Einzelfall gestellt werde, und zwar durch Experten im Benehmen mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Die Abgabe des Präparats und die weitere Therapie dürften ausschließlich in hochspezialisierten Zentren erfolgen.
Die Behandlungsverläufe seien zu dokumentieren, eine qualitätsgesicherte Anwendung müsse zeitnah durch den G-BA festgelegt werden. Gefordert wird auch, dass nicht zugelassene Arzneimittel nur in den Fällen zulasten der GKV verordnet werden können sollten, „bei denen unmittelbare Lebensgefahr ohne erfolgversprechende Alternativtherapie besteht“.
In dem Zusammenhang weisen die Unterzeichner darauf hin, dass mit Nusinersen (Spinraza) seit 2017 ein auch in Deutschland ein zugelassenes Medikament zur Therapie der SMA zur Verfügung steht, das allerdings nicht wie Zolgensma nur einmal, sondern regelmäßig verabreicht werden müsse.
Es sei jedoch belegt, dass Spinraza den Krankheitsverlauf positiv beeinflusse. Der G-BA habe für das Medikament für die betroffene Patientengruppe einen „erheblichen Zusatznutzen“ festgestellt. Vergleichsstudien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Zolgensma und Spinraza gebe es nicht.
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