OECD: Geburtenrate innerhalb von 60 Jahren halbiert
Paris – Die Geburtenrate pro Frau ist in den Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in den vergangenen 60 Jahren um etwa die Hälfte geschrumpft. Davon berichtet die OECD in ihrem Report „Society at a Glance 2024“, der gestern veröffentlicht wurde.
Frauen bekommen demnach zudem in immer höherem Alter Kinder oder bleiben zunehmend dauerhaft kinderlos. Fachleute führen das unter anderem auf veränderte Geschlechternormen, Unsicherheit, die multiplen Krisen und veränderte Anforderungen an Elternschaft zurück.
Während Frauen 1960 im Schnitt 3,3 Kinder zur Welt brachten, waren es 2022 nur noch etwa 1,5. Die OECD warnte vor möglichen ernsthaften wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Entwicklung.
Der Organisation zufolge liegt das nötige Level zum Erhalt der Bevölkerungsgröße bei 2,1 Kindern pro Frau. Durch die gesunkene Rate drohe eine zunehmend alternde Bevölkerung und dadurch ein geringerer Anteil an Erwerbstätigen. Auf Regierungen kämen so höhere Ausgaben für Renten und Gesundheitsleistungen zu.
Eine Ausnahme in den OECD-Daten ist Israel, das weit über der Rate von 2,1 liegt. Das liege vor allem daran, dass Frauen in dortigen religiösen Gemeinschaften noch überdurchschnittlich viele Kinder bekämen, sagte Monika Queisser von der OECD gestern in einem Webinar zur Vorstellung des Berichts.
Lage in Deutschland
In Deutschland bekamen Frauen den Angaben zufolge 1960 im Schnitt 2,4 Kinder. 2022 waren es durchschnittlich nur noch 1,46 – knapp unter dem OECD-Durchschnitt. Die niedrigste Geburtenrate war demnach Mitte der 1990er-Jahre mit 1,2 Kindern pro Frau erreicht worden.
Der OECD zufolge lag dies an einem Geburtenrückgang in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Danach sei es auch wegen familienpolitischer Entwicklungen zwischenzeitlich zu einem Anstieg gekommen, in den vergangenen Jahren sank die Rate jedoch wieder.
Besonders wenige Kinder werden der OECD zufolge mittlerweile in Korea geboren: Dort bekamen Frauen im vergangenen Jahr geschätzt im Schnitt 0,7 Kinder. Bis 2060 komme in dem Land voraussichtlich ein älterer Mensch auf einen Erwerbstätigen, sagte Queisser. Auch Spanien, Polen und Japan gehörten dann zu den sehr alten Ländern.
Frauen werden immer später Mütter – oder gar nicht
Heutzutage bekommen Frauen laut OECD nicht nur weniger, sondern auch später Kinder. Im Jahr 2000 waren Mütter bei der Geburt im Schnitt 28,6 Jahre alt, 2022 durchschnittlich 30,9. In Deutschland stieg das Durchschnittsalter in dem Zeitraum von 28,8 auf 31,4 Jahre.
Der Rückgang der Fertilitätsrate hängt auch mit der Zunahme von Kinderlosigkeit in den meisten OECD-Ländern zusammen. In Deutschland stieg die dauerhafte Kinderlosigkeit von 16 Prozent bei den 1955 geborenen Frauen auf 20 Prozent bei den 1975 geborenen Frauen.
Noch ausgeprägter zeigt sich die Entwicklung etwa in Italien, wo von den 1951 geborenen Frauen nur rund jede Zehnte dauerhaft kinderlos blieb, bei den 1978 Geborenen aber bereits rund jede Fünfte.
In einigen OECD-Ländern wohne ein großer Teil der jungen Erwachsenen noch bei den eigenen Eltern, sagte Queisser. In Deutschland, wo dieser Anteil gesunken sei, etwa greife das aber nicht so sehr als Erklärung.
Unsicherheit, Anforderungen und Geschlechternormen als mögliche Ursachen
Einige der möglichen Faktoren für die Entwicklungen seien für die datenbasiert arbeitende OECD schwer zu quantifizieren, sagte Queisser. „Wir glauben, dass es viel zu tun hat mit Unsicherheit.“ Als Beispiele nannte sie weniger stabile Arbeitsverträge, geringere Löhne, höhere Arbeitslosigkeit, Klima-Unsicherheiten, Kriege sowie die Zunahme psychischer Erkrankungen insbesondere nach der Pandemie.
Viele dieser Punkte könnten dazu führen, dass sich junge Menschen es nicht unbedingt zutrauten, Kinder in die Welt zu setzen. Auch veränderte Einstellungen zur Elternschaft – Queisser nannte Labels wie „Helikopter-Eltern“ und „Tiger Mom“ – könnten eine Rolle spielen: Von Eltern werde heute ein anderer Einsatz erwartet als in früheren Generationen. Das könne bei manchen Menschen zu Überforderung führen. Hinzu kämen veränderte Geschlechternormen, Frauen arbeiteten selbstverständlicher in Vollzeit.
Welche politischen Maßnahmen helfen können
Die OECD-Staaten nutzen Stefano Scarpetta, dem Leiter der Abteilung für Arbeit und Soziales bei der OECD, zufolge viele Mittel, um Familien zu unterstützen. Dennoch: „Die wirtschaftlichen Kosten und die langfristige finanzielle Unsicherheit dadurch, Kinder zu bekommen, beeinflusst die Entscheidung, Eltern zu werden, weiterhin stark.“
Um es Menschen leichter zu machen, Kinder zu bekommen, müssten Staaten Familien umfassend und verlässlich unterstützen. „Dazu gehört bezahlbares Wohnen, Familienpolitik, die dabei hilft, Arbeit und Familie zu vereinen, und eine Kohärenz mit anderen politischen Maßnahmen, die Zugang zu guten Jobs und Karrieremöglichkeiten für Frauen fördern.“
„Aber vielleicht müssen wir uns auch auf eine Zukunft mit geringerer Fertilität gefasst machen“, ergänzte Queisser. Man könne sich nicht darauf verlassen, dass mehr Kinder die Renten retteten.
Wie Fachleute die Entwicklung einordnen
Heute habe man viel mehr Geschlechtergleichheit und eine ganz andere Gesellschaft, daher seien die geringeren Fertilitätsraten eigentlich keine Überraschung, sagte der Bildungsökonom Matthias Doepke von der London School of Economics and Political Science, im OECD-Webinar.
Völlig getrennte Geschlechterrollen seien passé. Der Erziehungsstil habe sich zudem verändert, Eltern verbrächten mehr Zeit mit ihren Kindern. Im Querschnitt sei sehr klar, dass es dort mehr Kinder gebe, wo es eine bessere Kinderbetreuung gebe. Auch billigerer Wohnraum und die Wirtschaftslage spielten eine Rolle, sagte Doepke. Studien zeigten, dass die Auswirkungen finanzieller Anreize relativ gering seien.
In Deutschland habe insbesondere der Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren zum zwischenzeitlichen Wiederanstieg der Geburtenraten beigetragen, sagte Katharina Spieß vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB). Warum sich der Trend dann trotz des Kita-Ausbaus nicht fortsetzte, begründet sie auch mit gewachsenen Ansprüchen der Eltern an die Familienpolitik. Die Erwartungen an Kitas seien gestiegen, etwa in Hinblick auf Bildung.
Es brauche außerdem eine verlässliche Familienpolitik, betonte Spieß. „Kitas sind zum Beispiel zurzeit aber nicht verlässlich.“ Auch das schaffe Unsicherheit, „letztlich Gift für die Umsetzung von Kinderwünschen“.
Große Rolle der Arbeitswelt
Wichtig seien die Arbeitswelt und Vorstellungen der Arbeitgeber, sagte Doepke. Mütter würden oft nicht in Führungspositionen gesehen. Von Managern werde Verfügbarkeit erwartet. „Diese Arbeitskultur muss sich eigentlich langfristig auch ändern, damit es möglich ist, dass Frauen und Männer beide in ähnlicher Weise Familie und Karriere miteinander kombinieren können.“
Je weniger die Arbeitswelt diejenigen langfristig in der Karriere bestrafe, die Sorgearbeit leisteten, desto eher entschieden sich Paare auch für Kinder, sagte Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Dies laufe etwa in Japan und Korea sehr schlecht, Potenzial für Änderungen gebe es aber auch hier.
Aktueller Rückgang nur Aufschub der Geburten?
Der aktuelle Rückgang der Geburtenraten mindestens in den europäischen OECD-Ländern ist nach den Worten Bujards vor allem mit den multiplen Krisen der vergangenen Jahre zu begründen. „Was wir nicht wissen: Ist es ein Aufschub der Geburten oder ist es tatsächlich ein dauerhafter Rückgang?“, sagte er.
Extrem auffällig sei bei 14- bis 17-Jährigen, dass sie eine „bürgerliche Normalbiografie“ anstrebten, der Wunsch einer heilen Welt sei stark zu spüren, sagte Silke Borgstedt vom Sinus-Institut mit Blick auf Untersuchungen ihres Hauses. Der Familienbegriff sei aber sehr weit gefasst.
Blicke man auf die 20- bis 39-Jährigen, so zeige sich aber die Sorge, dass ein leistbares Leben in Zukunft immer weniger möglich sein werde. „Familie ist nun einmal mit höheren zeitlichen und finanziellen Aufwendungen verbunden.“ Es kommt Borgstedt zufolge mit zunehmendem Alter zu einem Aufschieben des Kinderwunsches, etwa bis zum Erreichen finanzieller Autonomie.
Stark medial geprägt sei auch das Bild, dass eine Familiengründung auch mit über 40 Jahren noch problemlos möglich sei. Je nach Bildungsstand und Milieu hätten sich neue Normalitätsvorstellungen entwickelt.
Bisher wenig Realismus bei medizinischen Möglichkeiten
Medizinische Fortschritte würden oftmals überschätzt, sagte Bujard mit Blick etwa auf Kinderwunschbehandlungen und das Aufschieben des Kinderwunsches. „Da sollten wir realistisch sein: Wer tatsächlich eine gewisse Sicherheit haben möchte, zwei Kinder zu bekommen, sollte im Prinzip mit Anfang 30 damit anfangen.“
Bei jungen Eltern sei das Thema Wohnen ein entscheidender Faktor, sagte Borgstedt: Viele entschieden sich aus Platzgründen oder wegen fehlender Perspektive auf geeigneten Wohnraum gegen ein weiteres Kind.
Bujard erwartet keine allzu baldige Erholung der Geburtenraten. „Vielleicht wird es 2024 so weitergehen. Die Erklärung ist: multiple Krisen und diese Unsicherheiten.“ Natürlich müsse viel getan werden, um die Welt besser zu machen. Er warf aber auch die Frage auf: „War die Welt denn immer so wahnsinnig gut?“ Ein Stück weit müsse man von Perfektionserwartungen wegkommen. Zur Entscheidung für Kinder gehörten auch Lebensmut, Liebe, „einfach machen“.
Die OECD vereint 38 Länder, die sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennen. Mittlerweile sind neben großen Volkswirtschaften wie Deutschland, den USA und Japan auch Schwellenländer wie Mexiko und Chile Mitglied.
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