Politik

Organspende-Skandal an Uniklinik Göttingen weitet sich aus

  • Freitag, 20. Juli 2012
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Göttingen – Deutschland droht einer der größten Skandale in der Geschichte der Organspende: Ein Göttinger Transplantationsmediziner soll in großem Stil Krankenakten manipuliert haben, um bestimmten Patienten bevorzugt eine Spenderleber zu verschaffen. Es werde 25 Verdachtsfällen nachgegangen, sagte der Vorsitzende der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer (BÄK), Hans Lilie, am Freitag.

Lilie sprach von bislang einmaligen Vorgängen. Er habe in Deutschland „niemals mit so etwas gerechnet”. Er werde sich dafür stark machen, dass die Bundesärztekammer ihre Richtlinien verschärft. Dabei werde auch an ein Vier-Augen-Prinzip gedacht, sagte Lilie in der Süddeutschen Zeitung (SZ).

Den Angaben zufolge sollen unter anderem Laborwerte manipuliert und Dialyse­proto­kolle gefälscht worden sein, um zum Beispiel neben der Leberer­krankung auch noch Nierenprobleme vorzutäuschen. Dies verbessert die Position auf der Warteliste, die für die Zuteilung eines Spenderorgans relevant ist. Über die Vorwürfe hatte die SZ am Freitag berichtet.

Der ehemalige Oberarzt des Universitätsklinikums Göttingen war bereits vor Wochen ins Visier der Ermittler geraten. Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Arzt wegen Bestechlichkeit. Er soll einem russischen Patienten bei der Zuteilung einer Spenderleber bevorzugt haben, was er laut Klinikum aber bestreitet.

Bislang war die Uniklinik von einem Einzelfall ausgegangen, wie ein Sprecher sagte. Im Zuge weiterer Untersuchungen von Patientenakten sei die BÄK aber auf weitere Verdachtsfälle gestoßen. Klinikvorstand Sebastian Freytag sprach am Freitag von einer „Katastrophe”. Die Uniklinik will nun eine eigene externe Gutachterkommission mit der Prüfung der neuen Fälle betrauen. Der Beschuldigte selbst arbeitet seit Ende 2011 nicht mehr dort.

Lilie sagte, es gebe bislang keine Hinweise, dass der Mann Geld genommen und sich persönlich bereichert habe. Womöglich seien aber durch leistungsorientierte Verträge „falsche Anreize” gesetzt worden. Zugleich schloss er nicht aus, dass weitere Personen verwickelt sein könnten. Eine Task Force der Bundesärztekammer soll die Fälle nun genauer untersuchen. „Es wird alles getan, um die Vorfälle vollständig und umfassend aufzuklären”, sagte der Strafrechtler der Universität Halle. Klaus Ziehe, Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, alle Unterlagen würden nun eingehend prüfen. 

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) forderte eine rasche Aufklärung. Sollte sich der Vorwurf der Schieberei bei der Organzuteilung bestätigen, müsse dies „massive Konsequenzen” nach sich ziehen, ließ Bahr am Freitag über seinen Sprecher in Berlin erklären. Bahr sei besorgt, dass die Berichte die Bereitschaft zur Organspende „massiv erschüttern” könnten.

Der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn betonte, Organspende sei „ein höchst sensibles Thema”. „Da ist schon der Verdacht auf Manipulationen fatal, gerade in diesem Jahr, wo wir als Bundestag besonders für mehr Spendebereitschaft werben wollen”, erklärte er.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte den Zeitungen der WAZ-Gruppe vom Samstag, sollten die Vorwürfe zutreffen, müssten die Gerichte die Verantwortlichen „sehr hart und abschreckend bestrafen”.

Die Grünen forderten hingegen stärkere Kontrollen im Spendesystem. Die Pflege­poli­tische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Elisabeth Scharfenberg, machte „erhebliche Kontrolldefizite” für die Vorfälle verantwortlich. Diese hätten „auch strukturelle Ursachen”, sagte Scharfenberg der Tageszeitung Die Welt vom Samstag.

Die niedersächsische Gesundheitsministerin Aygül Özkan (CDU) forderte strukturelle Konsequenzen: «Wir brauchen in den Richtlinien der Bundesärztekammer für die Wartelistenführung und Organvermittlung noch intensivere Kontrollmechanismen, um zu verhindern, dass Einzelne mit krimineller Energie die Regelungen umgehen”, sagte Özkan der Welt.

Konkret verlangte Özkan, das Vier-Augen-Prinzip einzuführen. Durch die „Verpflichtung zur Hinzuziehung einer zweiten Person” könne man eine „größere Sicherheit vor unrichtigen Einträgen schaffen”.

Nach Einschätzung des Geschäftsführers der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, zeigen die Vorfälle hingegen: „Die privaten Akteure im Transplantationssystem sind mit der Organentnahme und Organverteilung überfordert.” Er verlangte die Verantwortung für die Organentnahme und Organvergabe in staatliche Hand zu überführen.

Erst im Juni hatte der Bundesrat neue Regelungen zur Organspende auf den Weg gebracht, die das Ziel haben, die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen. Die Bürger werden künftig regelmäßig nach ihrer Bereitschaft zu Organspenden gefragt. Die gesetzliche Regelung ist noch nicht in Kraft getreten.

afp/kna

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