Praktisches Jahr in Oxford: Studium in Tradition
Seit Jahrhunderten streitet Oxford mit Cambridge darum, wessen Universität nun die ältere sei – und mindestens ebenso lange zieht der klangvolle Name der dortigen Universität Deutsche ins Herz Englands: vom Studenten bis zum Professor.
Noch vor dem ersten Tag in der Klinik wird der Oxford-Debütant als Student im Praktischen Jahr zum temporären Mitglied des Green College ernannt und zum „Honorary Member“ der Osler Society – das hat nicht nur Klang und Namen, sondern dient auch als Orientierungshilfe. Die Studenten hier identifizieren sich eher mit ihrem College (und seinen Parties) als mit dem Studienfach oder der Universität. Die Colleges formen ein gemeinsames Gremium, das die Universität von Oxford selber sowie einige wenige Zentraleinrichtungen für Examina und Graduierungen verwaltet.
Bei gerade mal 16 500 Studenten verfügt die Universität über ein Kapital in Höhe von 400 Millionen Pfund, um die Bedingungen für ein elitäres Studium zu bieten. Leben und Lernen findet im kleinen Kreis an den einzelnen Colleges statt – und das in einer Stadt, die sich als Heimat der mit 800 Jahren ältesten Universität der englischsprachigen Welt versteht. John Radcliffe, im 18. Jahrhundert Leibarzt der Queen Anne, brachte es seinerzeit zu einem solch ansehnlichen Reichtum, dass er der Stadt nicht nur die Radcliffe Camera hinterließ – eine stattliche kreisrunde medizinische Bibliothek –, sondern auch die Radcliffe Infirmary. Dieses erste Krankenhaus beziehungsweise das dazugehörige Gebäude ist inzwischen viel zu klein geworden, sodass bis auf die neurologische und ophthalmologische Abteilung das Krankenhaus vor die Tore der Stadt ins John Radcliffe Hospital ausgelagert wurde: einen Neubau des staatlichen Gesundheitswesens NHS.
Prof. Dr. Hugh Watkins ist Kardiologe und das, was man einen Gentleman zu nennen pflegt. Er leitet die kardiologische Abteilung und sorgt dafür, dass Studenten immer „most welcome“ sind. Ob am Krankenbett oder in der Sprechstunde: Der deutsche Student im Praktischen Jahr bekommt ganz selbstverständlich nicht nur einen Überblick über alle Bereiche, sondern auch eigene Patienten, die er unter der wachsamen und kritischen Supervision der „Consultants“ betreuen kann. Gelehrt wird ärztliches Können als Kunst. Und es ist ein wahres Vergnügen zu erleben, wie auch arrivierte Professoren ihre Meinungsdifferenzen in einem akademischen Wettstreit miteinander austauschen.
Das Green College ist das jüngste College und Heimat der Medizinstudenten. Als ehemaliges Observatorium Oxfords wurde es vom Begründer eines großen amerikanischen Konzerns aufgekauft und der Universität gestiftet. Wie alle anderen Colleges auch verfügt es über eigene Einrichtungen, vom Speisesaal und Empfangsräumen über die Bibliothek und den Lesesaal bis zu den Sporteinrichtungen – und der eigenen Kneipe. Gemeinschaftsleben wird zelebriert; gern auch im „Gown“, dem traditionellen Talar der Akademiker.
Gepflegt werden ferner Traditionen wie das als „High Table“ bezeichnete wöchentliche formelle Treffen der Fakultätsmitglieder, Studenten und ihrer Gäste. Es spielt sich in den einzelnen Colleges nach ähnlichem Muster ab: in repräsentativen Räumlichkeiten trifft man sich im Anschluss an einen Aperitif zum Dinner, wobei man nach genau festgelegten Riten Konversation betreibt. Einzig die Eröffnung durch ein lateinisches Gebet wurde vor kurzem abgeschafft.
In Oxford findet auch das abendliche Leben in den Mauern der Colleges statt. Beschauliche Einkehr in den „Evensongs“, den von den Chören der Colleges täglich neu einstudierten Abendgebete, gesungen in jahrhunderte- alten Kathedralen oder im Rahmen animierter Küchenparties: Sozialleben wie in Oxford findet man wohl nur ebendort in dieser Art. Zwar hat die Stadt Oxford weit mehr zu bieten als die Universität, doch sie lebt von und in ihrer Akademia. Karsten Lunze
E-Mail: Karsten@Lunze.de
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