Designiertem EU-Gesundheitskommissar steht heikle Anhörung bevor

Berlin – Der umstrittene designierte EU-Gesundheitskommissar Oliver Várhelyi muss sich Mittwoch kommender Woche dem Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) stellen, um im Amt bestätigt zu werden.
Der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion Europäische Volkspartei (EVP), Peter Liese (CDU), erwartet eine kontroverse Anhörung mit offenem Ausgang. Schlimmstenfalls könne es zu einer Blockade der EU-Kommission kommen.
Anders als Ministerinnen und Minister in den Mitgliedstaaten müssen sich Kandidaten für die Posten der Kommissarinnen und Kommissare in Brüssel zuerst den für ihren Fachbereich zuständigen Ausschüssen stellen. Diese können die Ernennung durch eine Verweigerung ihrer Zustimmung verhindern.
„Ich denke, das ist eine Sternstunde der europäischen Demokratie und zeigt die Macht des Europäischen Parlaments“, erklärte Liese heute in Brüssel. Das EU-Parlament habe in diesem Bereich mehr Macht als alle nationalen Parlamente in Europa, unterstrich er. Zudem würden die Anhörungen die Möglichkeit bieten, bereits vor der Ernennung eines neuen Kommissars deren Durchsetzung politischer Anliegen einzufordern.
Der ENVI-Ausschuss wird an den Anhörungen von zehn der 26 designierten Kommissare beteiligt sein, im Fall des Gesundheitskommissars federführend. „Die größte Herausforderung wird dabei natürlich Oliver Várhelyi sein“, kündigte Liese an.
Der ungarische Diplomat Várhelyi soll die zyprische Kommissarin Stella Kyriakides ersetzen. Er ist bereits seit 2019 Mitglied der EU-Kommission und war bisher für das Ressort Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik verantwortlich.
Neben dem designierten Vizekommissionspräsidenten Rafaele Fitto von der Partei Fratelli d’Italia der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gilt Várhelyi als umstrittenster Kandidat im Portfolio von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU).
Der bisherige Erweiterungskommissar gilt als Vertrauter des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und stand bereits in der zurückliegenden Legislaturperiode mehrfach für seine Amtsführung in der Kritik. „Orbán versucht, alles in Europa zu zerstören, Meloni ist wenigstens konstruktiv“, erklärte Liese heute.
Anfang vergangenen Jahres forderte die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D), der unter anderem die SPD angehört, Ermittlungen gegen Várhelyi wegen mutmaßlicher Verstöße gegen den Verhaltenskodex von Kommissionsmitgliedern.
Die Fraktion warf ihm vor, im Interesse Orbáns Kritik am Abbau der Rechtsstaatlichkeit und an der Schwächung demokratischer Institutionen im EU-Beitrittskandidatenland Serbien durch den dortigen Präsidenten Aleksandar Vučić zu unterminieren. Mutmaßlich habe er sogar separatistische Bestrebungen des Präsidenten der Republik Srpska, Milorad Dodik, im benachbarten Bosnien und Herzegowina unterstützt.
„Es gibt zwei große Probleme mit Várhelyi: Er ist ein Orbán-Mann und er hat in der Vergangenheit kein Respekt für das Parlament gezeigt“, kritisierte Liese ihn heute. Er verwies dabei vor allem auf einen Eklat, den Várhelyi 2023 im EU-Parlament ausgelöst hatte. Bei einer Kommissionsbefragung zur Erweiterungspolitik auf dem Westbalkan musste sich der Erweiterungskommissar den Abgeordneten stellen.
Der kroatische Abgeordnete Tomislav Sokol – wie Liese Mitglied des ENVI-Ausschusses sowie Berichterstatter für den Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) – hatte nach anderthalb Stunden Befragung Serbien dafür verurteilt, sich nicht an den EU-Sanktionen gegen Russland zu beteiligen und Várhelyi nach den Folgen der serbischen Parteinahme für Russland für den Beitrittsprozess gefragt.
Dieser setzte sich nach seiner Antwort und fragte – nicht wissend, dass sein Mikrofon noch eingeschaltet war – seinen Banknachbarn, „wie viele Idioten es denn hier noch gibt“. „Wir erwarten mindestens eine Entschuldigung und die Zusage, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt“, betonte Liese.
Wichtiger seien jedoch die Zweifel an Várhelyis politischer Integrität. „Es muss in der Anhörung klar werden, dass er ein europäischer Kommissar ist und kein Kommissar Orbáns.“ Er müsse glaubhaft Befürchtungen ausräumen, dass er in Wahrheit im Interesse des ungarischen Ministerpräsidenten agiert.
Man müsse sich nur vorstellen, was passieren würde, gäbe es in den kommenden Jahren eine neue Pandemie, sagte Liese. Orbán habe die europäische Politik während der COVID-19-Pandemie systematisch hintergangen und unter anderem, ohne eine Bewertung durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) abzuwarten, den russischen Coronaimpfstoff Sputnik geordert.
Es gebe im Parlament sehr großen Unmut darüber, dass ausgerechnet die Gesundheitspolitik – die sich laut Liese in den vergangenen fünf Jahren zu einem Kerngebiet der europäischen Politik entwickelt habe – an einen ungarischen Kandidaten gehe. „Ich erwarte keine leichte Anhörung für Várhelyi“, erklärte er. Die Ausschussmitglieder würden sich im Anschluss sehr viel Zeit für die Bewertung nehmen. „Da wird es sehr viele Diskussionen geben.“
Zugutehalten müsse man dem Kandidaten aber immerhin, dass er Erfahrung in gesundheitspolitischen Themen vorweisen könne. Várhelyi habe verstanden, dass die pharmazeutische Industrie in Europa gestärkt werden müsse, um Arzneimittellieferengpässen entgegenzuwirken, und unterstütze die jüngst vom Parlament geforderte Revision der Medizinprodukteverordnung (MDR) sowie den Aufbau des EHDS.
Zudem räumte er ein, dass sich Ausschuss und Kommission in einer Zwickmühle befinden. „Das Problem ist: Wenn wir ihn durchfallen lassen, was kriegen wir dann von Orbán?“, unterstrich er. Denn im Falle einer Ablehnung wäre der ungarische Ministerpräsident am Zug, eine Nachnominierung aufzustellen.
Das wäre mit Sicherheit erneut ein Kandidat von Orbáns nationalkonservativer Partei Fidesz. Das schlimmste denkbare, aber realistische Szenario, sei, dass Orbán die Nachnominierung absichtlich verschleppt und somit die EU-Kommission auf unbestimmte Zeit handlungsunfähig macht. „Falls Várhelyi wirklich zeigen sollte, dass er nicht für das Amt geeignet ist, müssen wir dieses Risiko aber eingehen“, erklärte Liese.
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