Nigeria: Hungertod droht, UN warnen vor Fluchtwelle

Abuja – Ohne eine entschlossene Bekämpfung der Hungerkrise im Nordosten Nigerias könnte Europa nach Ansicht der Vereinten Nationen (UN) eine neue Fluchtwelle drohen. Die internationale Gemeinschaft müsse die Behörden in der Region dringend unterstützen, um den Menschen eine bessere Zukunft zu ermöglichen, erklärte Toby Lanzer, der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in der Sahel-Zone, heute.
Für den Hilfseinsatz in Nigeria veranschlagen die UN in diesem Jahr Kosten von rund 1,5 Milliarden Dollar (1,4 Milliarden Euro). Am 24. Februar wird in Oslo eine Geberkonferenz abgehalten. „Wenn die internationale Gemeinschaft jetzt nicht einschreitet, dann wird die Krise noch schlimmer. Es wird dann noch mehr kosten, der Krise beizukommen“, erklärte Lanzer. Er betonte, die Menschen hätten kein Interesse, ihre Heimat zu verlassen. Aber falls sie in der Region keine Zukunft mehr sähen, sollten Europäer nicht überrascht sein, wenn mehr und mehr Menschen fliehen. „Und sie werden nach Europa fliehen.“ Rund eine halbe Million Kinder seien dieses Jahr in Nigeria und angrenzenden Gebieten im Niger, Tschad und in Kamerun vom Hungertod bedroht, erklärte Lanzer.
Infolge des Konflikts mit der islamistischen Terrororganisation Boko Haram sind in der Region rund 2,5 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als sieben Millionen brauchen Nahrungsmittelhilfe. In Gebieten, die bis vor Kurzem noch von Boko Haram kontrolliert wurden, haben Helfer eine dramatische humanitäre Lage vorgefunden: die Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen, Menschen hungern.
„Die Menschen kommen nach tagelangen Märschen ausgehungert und durstig bei unserer Klinik an“, schilderte Frauke Ossig, die Nothilfekoordinatorin der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Bundesstaat Borno. „Am schlimmsten ist es, wenn Menschen erschüttert erzählen, welche Familienmitglieder sie nicht mitnehmen konnten, weil diese schon zu schwach zum Laufen waren.“
MSF betreibt in der Stadt Damboa mit etwa 70.000 Einwohnern seit Juli eine Klinik. „Die Lage dort war schlimm. Es gab keine Hilfe für die Menschen. Die einzige Gesundheitsstation war bei Kämpfen zerstört worden“, erzählte Ossig. Zunächst wollte sich MSF dort wie üblich nur auf die ärztliche Versorgung konzentrieren, vor allem für die Binnenflüchtlinge, die in Damboa Schutz gesucht haben. „Aber dann haben wir gesehen, dass noch viel mehr Hilfe nötig war. Die Menschen haben keine Eimer, um sich zu waschen, keine Decken zum Schlafen, kein Moskitonetz, kein sauberes Trinkwasser.“
Militärisch kann Nigerias Präsident Muhammadu Buhari Erfolge im Kampf gegen Boko Haram vorweisen. Doch mit dem Ausmaß der humanitären Krise ist die Regierung des ölreichen Landes überfordert. Das liegt auch am niedrigen Ölpreis und einem Einbruch der Ölförderung. Die Landeswährung Naira hat bereits drastisch an Wert verloren, was den finanziellen Spielraum der Regierung weiter einschränkt.
Das UN-Kinderhilfswerk geht davon aus, dass ohne adäquate Hilfe dieses Jahr täglich rund 200 Kinder an den Folgen des Hungers sterben werden. Für einzelne Gebiete des Bundesstaats Borno gehen Experten davon aus, dass es sich bereits um eine Hungersnot handelt. Doch den UN fehlen aus den kaum zugänglichen Gebieten Daten, daher ist bislang noch die Rede von einer Hungerkrise der Stufe vier – fünf wäre bereits eine Hungersnot.
Weil die sunnitischen Fundamentalisten in dem Gebiet immer noch Anschläge verüben, müssen Helfer auf der Hut sein. Von der MSF-Klink in Damboa etwa könnte man die 90 Kilometer nach Maiduguri theoretisch in zwei Stunden fahren – aber nur mit militärischer Eskorte, wie Ossig erklärt. Wegen der Sicherheitslage müssen Helfer daher über Abuja fliegen – das dauert dann normalerweise zwei Tage.
Das Gesundheitssystem der Region ist wegen der Boko-Haram-Gewalt großenteils zusammengebrochen. Kleinkinder wurden nicht mehr geimpft, was nun zu Masern-Epidemien geführt hat. Zudem gab es zwei Jahre nach der vermeintlichen Ausrottung der Kinderlähmung (Poliomyelitis) in ganz Afrika in dem Gebiet erstmals wieder Krankheitsfälle.
„Ich habe nie gedacht, dass ich Dörfer sehen würde, in denen es keine zwei, drei oder vier Jahre alten Kinder mehr gibt“, erinnert sich Lanzer an seinen letzten Besuch der Region Ende Dezember. „Aber hier waren einfach keine Kinder mehr am Leben.“ In manchen Dörfern lagen Erwachsene demnach einfach auf dem Boden, weil sie keine Kraft mehr zum Gehen hatten. Zudem gibt es Gebiete, zu denen Helfer noch keinen Zugang haben. Dort sollen laut Lanzer 400.000 bis 800.000 Menschen festsitzen. „Wir müssen viel mehr Hilfe mobilisieren.“
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