WHO warnt vor tödlicher Hungerkrise im Gazastreifen

Gaza – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor einer tödlichen Hungerkrise im Gazastreifen. „Die 2,1 Millionen Menschen, die im Kriegsgebiet Gaza gefangen sind, sehen sich neben Bomben und Kugeln mit einem weiteren Killer konfrontiert: dem Hungertod“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. „Wir erleben täglich einen Anstieg der Todesfälle aufgrund von Unterernährung.“
Seit Mitte Juli seien die Zentren überfüllt, die Kinder mit akuter Unterernährung aufnehmen. Sie hätten nicht genügend Spezialnahrung, um sie notdürftig zu versorgen. Seit Anfang des Jahres seien mindestens 21 Kindern unter fünf Jahren durch Mangelernährung gestorben. Diese Fälle habe die WHO selbst dokumentiert. Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) lebt inzwischen ein Viertel der Bevölkerung „unter hungernotähnlichen Bedingungen“.
Viele Anwohner des Gazastreifens erzählen, dass sie von nur einer Mahlzeit am Tag lebten. Lebensmittel auf den Märkten seien völlig überteuert. Es gebe dort auch kaum mehr etwas zu kaufen. Die Menschen sind deshalb auf Hilfslieferungen angewiesen, von denen es aus ihrer Sicht viel zu wenige gibt.
Anwohner berichten zudem von Gewalt und Chaos bei der Ausgabe von Hilfspaketen. Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros sind bereits mehr als 1.000 Menschen umgekommen, als sie versuchten, an Lebensmittel zu kommen. 766 seien nahe den umstrittenen Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) getötet worden, andere in der Nähe von Hilfskonvois, die oft von Verzweifelten gestürmt werden, sagte Sprecher Thameen Al-Kheetan.
„Jeden Tag sterben Menschen aufgrund fehlender humanitärer Hilfe, und wir beobachten, wie sich diese Situation von Tag zu Tag verschärft“, sagte Ross Smith, Direktor für Noteinsätze beim WFP, Anfang der Woche in New York. „Die Unterernährung nimmt rapide zu“, teilte die Organisation diese Woche mit. „90.000 Frauen und Kinder benötigen dringend medizinische Behandlung.“
In einem gemeinsamen Appell forderten gestern mehr als 100 internationale Hilfsorganisationen Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen im Gazastreifen. Vor den Toren Gazas, in Lagerhäusern – und sogar im Gazastreifen selbst – lägen Tonnen von Lebensmitteln, sauberem Wasser, medizinischen Hilfsgütern, Unterkünften und Treibstoffen ungenutzt herum, da humanitäre Organisationen keinen Zugang zu ihnen haben und sie nicht ausliefern können, heißt es in dem Schreiben der Organisationen. „Das Aushungern von Zivilisten als Kriegsmethode ist ein Kriegsverbrechen.“
Die Times of Israel zitierte jüngst einen ranghohen israelischen Sicherheitsbeamten, wonach das Militär keine „Hungersnot“ in Gaza festgestellt habe. Er sagte dem Bericht zufolge aber, dass es Maßnahmen brauche, um die humanitäre Lage dort zu stabilisieren. Im Gazastreifen gebe es zwar Hunger, sagte ein israelischer Regierungssprecher. Daran sei aber nicht Israel Schuld.
Die Hamas versuche, die Verteilung von Hilfsgütern an die Bevölkerung zu verhindern und kapere Hilfstransporter und verkaufe sie zu horrenden Preisen an Händler weiter und bezahle davon ihre Kämpfer.
Ein weiteres Problem sei dem israelischen Regierungssprecher zufolge, dass die UN Lastwagen, die bereits im Gazastreifen seien, nicht abholten und zu den Menschen brächten. Die UN weisen dies zurück. Vielmehr erhielten sie selten Erlaubnis zur Einreise von Hilfstransportern. Von Mitte Mai bis Mitte Juli seien mehr als 1.600 Lastwagen mit UN-Hilfsgütern genehmigt worden und hätten verteilt werden können.
Das seien nicht einmal 30 Lastwagen pro Tag. Um die grundlegendsten Bedürfnisse zu decken, sind laut dem UN-Nothilfebüro (OCHA) aber mehr als 600 bis 650 pro Tag nötig. Ein israelischer Regierungssprecher sagte, zwischen dem 19. und 22. Juli seien mehr als 4.400 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gefahren.
Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde im Gazastreifen meldete, in den vergangenen 24 Stunden seien zehn Menschen an den Folgen von Hunger gestorben. Insgesamt seien deshalb bereits 111 Palästinenser ums Leben gekommen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Für die Erklärung einer Hungersnot haben die Vereinten Nationen feste Richtlinien. Sie wird erklärt, wenn mindestens zwei von 10.000 Menschen täglich durch Nahrungsmangel sterben, wenn mindestens 20 Prozent der Haushalte extremen Nahrungsmangel haben und wenn mindestens 30 Prozent der Kinder an akuter Unterernährung leiden. Im Gazastreifen ist angesichts der anhaltenden israelischen Angriffe und der ständigen Vertreibungen der Bevölkerung allein die Prüfung dieser Kriterien schwierig, so die UN.
In Israels Küstenmetropole Tel Aviv protestierten laut der Times of Israel Tausende bei einem Marsch durch die Stadt gegen den Gaza-Krieg. Demonstranten hätten dabei auch Fotos von Kindern aus dem Gazastreifen, die an den Folgen von Hunger gestorben sein sollen, gezeigt. Die Teilnehmer des Marschs trugen demnach auch Mehlsäcke, um auf die Not im Gazastreifen aufmerksam zu machen.
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