Wie ein Zahnstocher zum lebensgefährlichen Risiko werden kann
Unaufmerksamkeit beim Essen kann tödlich sein. Wer auf einer Party die kleinen Holzspieße in den Käsehäppchen übersieht, einen Rollmops zu hastig herunterschlingt oder beim Verzehr einer Roulade nicht aufpasst, findet sich – vielleicht erst Wochen später – auf dem Operationstisch wieder, wie dies einem 18-jährigen Mann aus Neuengland widerfuhr, über den Helen Shields vom Brigham and Women’s Hospital, Boston, und Mitarbeiter im New England Journal of Medicine berichten.
Der junge Mann konnte sich später partout nicht daran erinnern, wo und wie er den kleinen fünf Zentimeter langen Zahnstocher verschluckt hatte, der in seinem Darm stecken geblieben war. Es muss auf einer Reise passiert sein, die er zusammen mit einem Sportteam unternommen hatte. Vielleicht hatten sie zusammen gefeiert und getrunken.
Der erste Arztkontakt erfolgte wegen postprandialer Schmerzen im unteren rechten Quadranten begleitet von Übelkeit und leichtem Durchfall. Außerdem war die Temperatur erhöht. Die Ärzte vermuteten wohl eine Appendizitis. Nachdem die Radiologen im CT nichts auffälliges entdecken konnten (sie übersahen eine 20 mal zehn Millimeter große Luftansammlung vor der Lendenwirbelsäule im Bereich des Sigmoids) und der Laborbefund unauffällig war, entließen die Ärzte den Patienten nach fünf Stunden Beobachtung.
Der junge Mann setzte seine Reise fort. In den folgenden beiden Wochen ließen seine Beschwerden nach und das Fieber ging zunächst wieder zurück. Ein erneuter Fieberschub und starke Bauschmerzen veranlassten ihn, eine zweite Klinik aufzusuchen. Dieses Mal war die Bauchdecke gespannt. Doch auch in der jetzt durchgeführten Magnetresonanztomografie war nichts zu sehen und der Laborbefund erneut unauffällig. Der Bericht über Blutbeimischungen im Stuhl löste keinen Alarm aus. Die Ärzte gaben dem Patienten Paracetamol gegen das Fieber und rieten ihm, nach der Rückkehr in die Heimat einen Internisten aufzusuchen.
Zwei Tage später war das Fieber wieder angestiegen und der Patienten klagte über Schmerzen in Bauch und Rücken. Der Internist schlug eine Darmspiegelung vor und schickte den Patienten mit Abführmitteln zur Darmreiniung nach Hause. Bei der Darmreiniung kam es dann zu einer massiven Blutung. Der Hb-Wert fiel von 11,4 auf 9,2 ab. Der Patient litt unter Schüttelfrost und die Temperatur war auf 39,4 °C angestiegen, als er am nächsten Tage zur Darmspiegelung kam.
Bei der Koloskopie, die unter Notfallbedingungen durchgeführt wurde, war der Zahnstocher nicht zu übersehen. Beide Spitzen steckten in der Darmwand. Als die Ärzte ihn enfernten, kam es zu pulsierenden Blutungen. Damit war klar, dass der Zahnstocher nicht nur die Darmwand perforiert, sondern ein arterielles Gefäß punktiert hatte. Bei der sofort initiierten gefäßchirurgischen Operation stellte sich heraus, dass der Zahnstocher nicht irgendein Gefäß getroffen hatte, sondern mit der rechten Arteria iliaca communis die Hauptschlagader im Becken.
Die arterioenterische Fistel konnte nicht einfach durch eine Gefäßnaht verschlossen werden, weil ein Teil der Arterie nicht mehr vital war. Die Chirurgen mussten einen drei Zentimeter langen Abschnitt entfernen und durch ein Interponat aus einer Vena femoralis superior ersetzen. Wegen der Gefahr eines Kompartmentsyndroms wurde am rechten Unterschenkel eine ausgedehnte Faszienspaltung durchgeführt.
Der junge Mann, der bereits nach zehn Tagen ohne Gehhilfe die Klinik verließ, hat vermutlich Glück gehabt. In einer Übersicht von 136 Fällen, die ein Team um Johan Friso Lock von der Charité – Universitätsmedizin Berlin im World Journal of Surgery (2014; 38: 371-377) publizierte, betrug die Sterblichkeit fast zehn Prozent. Interessanterweise war mehr als der Hälfte der Patienten nicht bewusst, dass sie einen Zahnstocher verschluckt hatten. Bauchschmerzen, Fieber und Übelkeit waren die häufigsten Symptome.
Obwohl die Zahnstocher relativ groß und in der Regel an beiden Seiten spitz sind, blieben nur zwei Prozent im Ösophagus stecken, 20 Prozent wurden aus dem Magen entfernt. Da die Magensäure das Holz nicht auflöste, gelangten die Zahnstocher bei 23 Prozent ins Duodenum, 18 Prozent schafften es in den Dünndarm und 37 Prozent bis in den Dickdarm. Häufig blieb der dünne Holzstab in Endoskopie, Computertomografie und Ultraschall unsichtbar. In 58 Prozent der Fälle musste der Zahnstocher operativ entfernt werden.
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