Akademie-Empfehlungen zum Wahren und Fördern der Wissenschaftsfreiheit

Berlin – Wissenschaftliche Diskurse ohne Denk- oder Sprechverbote, personalisierten Kampagnen gegen Hochschulangehörige entgegentreten, die Vorherrschaft betriebswirtschaftlichen Denkens überdenken: Das sind einige der rund 20 Empfehlungen zum Wahren und Fördern der Wissenschaftsfreiheit, die heute in Berlin vorgestellt wurden.
Verfasst wurden diese von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW). Die Empfehlungen richten sich an Menschen, die in der Wissenschaft tätig sind, an wissenschaftliche Fachgesellschaften und Fakultätentage, Hochschulleitungen, Förderorganisationen sowie die Wissenschaftspolitik.
Analyse des Strukturwandel an Unis
Grundlegend dafür sei eine Analyse des Strukturwandels an den deutschen Universitäten in den vergangenen drei Jahrzehnten gewesen, dazu gehöre in erster Linie der Einzug des New Public Management, sagte der Wiener Wissenschaftshistoriker und Mitautor Mitchell Ash.
Damit ist das Übernehmen von Techniken aus der Privatwirtschaft in der öffentlichen Verwaltung gemeint, um Leistungssteigerungen durch Wettbewerbsdruck zu erzeugen.
Zu den Folgen zählt Ash zufolge etwa eine zunehmende Konzentration der Forschungsförderung auf die Einwerbung von Drittmitteln. Dadurch werde zum Beispiel das Mainstreaming der Themenwahl verstärkt.
Außerdem würden Hochschulen vermehrt zentral und strategisch orientiert gesteuert. Dies führe zu einer versuchten Lenkung der Forschung auf bestimmte Themen. Außerdem würden Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen forciert und große Cluster favorisiert.
Hinzu kämen vermehrt aufwendige Evaluationsverfahren, deren Nutzen immer weniger nachvollziehbar werde. Damit hänge der Einzug einer „sogenannten Qualitätssicherung“ durch die Hochschulverwaltungen zusammen. Kritik übt die Arbeitsgruppe nach Ashs Worten auch an den Karrierewegen, etwa befristeten Stellen unterhalb der Professur, die zur Abhängigkeit vom Lehrstuhlinhaber führen könnten.
Soziale Medien begünstigten Allianzen mit außeruniversitären Aktivisten
In Anbetracht von mehr verschiedenen Interessengruppen und in Medien skandalisierter Fälle versuchter Diskurskontrolle komme es zu schwankenden Haltungen und mangelnder Profilbildung der Hochschulleitungen, sagte Ash.
All dies passiere vor dem Hintergrund der Verbreitung sozialer Medien, so dass Hochschulen kaum mehr ein geschützter Freiraum sein könnten. „Dieser Medienwandel begünstigt die Allianzen studentischer und außeruniversitärer Aktivisten“, es komme zur Politisierung wissenschaftlicher Inhalte.
Den Begriff „Cancel Culture“ verwendet die Gruppe in ihrem Text nicht. Er sei mittlerweile eine Art Schlagkeule der politisch Konservativen und Rechten und scheine daher nicht mehr als neutraler Analysebegriff tauglich zu sein, sagte Ash.
Institutionen in der Verantwortung
Neben den Forschenden müssten die Institutionen als Trägerinnen der Wissenschaftsfreiheit anerkannt werden, sagte Ash mit Blick auf die Empfehlungen. Daraus leitet sich eine Verpflichtung der Hochschulen und der Politik ab. Konkret müssten die hochschulinternen Ressourcen für Forschung gestärkt und interne Fördermittel auf allen Karrierestufen bereitgestellt werden.
Bei der Evaluierungspraxis rät die Gruppe zu einer grundlegenden Reform mit Einbeziehen von Experten. Die Anzahl solle auf das fachlich unbedingt Notwendige reduziert werden und die Rolle quantitativer Beurteilungskriterien gegenüber einer inhaltlichen Auseinandersetzung in den Hintergrund treten: „Also lesen und nicht nur zählen“, sagte Ash.
Den Hochschulleitungen empfehle man, beherzter und eindeutiger für die Freiheit der Forschung und der Lehre an ihren Einrichtungen einzutreten. Die Lehrfreiheit gelte auch für Lehrende und Lehrinhalte, die als unbequem oder provokativ empfunden werden. Als Ausnahmen hob Ash etwa Holocaustleugnung oder Volksverhetzung hervor.
An Forschende appelliert die Arbeitsgruppe, ihr eigenes Verhalten stärker zu reflektieren und alles zu unterlassen, was die Lehr- und Forschungsfreiheit anderer einschränkt. „Das bedeutet auch, angegriffenen Kolleginnen und Kollegen beizustehen und sich nicht wegzuducken“, sagte Ash.
Keine Kommentierung tagesaktueller Vorfälle
Angesichts der großen aufgeregten Diskussionen der vergangenen Wochen sei ihm wichtig zu betonen, dass es der Akademie nicht um eine kurzfristige Kommentierung gehe, sondern um Beratung zu langfristigen Entwicklungen, sagte der Präsident der BBAW, Christoph Markschies.
Mit Wissenschaftsfreiheit ist den Verfassern zufolge im Kern die freie Wahl der Themen, der Methoden, Vorgehensweisen, Kooperationsformen und -partner sowie der Publikationsformen und didaktischen Prinzipien gemeint. Sie steht in Deutschland unter dem Schutz des Grundgesetzes.
Wissenschaftsfreiheit sei klar zu unterscheiden von der Rede- und Meinungsfreiheit, etwa Meinungsäußerungen von Forschenden über andere Fragen, betonte Ash. In der medialen Berichterstattung über Skandalfälle und Debatte komme es häufig zu einer Vermengung von Wissenschafts- beziehungsweise Rede- und Meinungsfreiheit.
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